Kunst:Empörend abstrakt

Kunst: Angekommen im Kanon: Senga Nengudis Performance „Get-Up“ aus dem Jahr 1979.

Angekommen im Kanon: Senga Nengudis Performance „Get-Up“ aus dem Jahr 1979.

(Foto: Courtesy the artist and Thomas Erben Gallery, New York)

Die Kunst Senga Nengudis galt lange als nicht "schwarz" und nicht politisch genug. Das Münchner Lenbachhaus widmet ihr endlich eine Werkschau.

Von Catrin Lorch

Die Skulptur hängt an der Wand, streckt sich aus, spreizt sich, kommt einem entgegen. Man würde sie gerne berühren. Die glatte Oberfläche spüren und das warme Dunkelbraun. Prüfen, wie fest die Spannung ist, ob da etwas federt. Senga Nengudi hat für ihre "R.S.V.P."-Performance (1977) Nylonstrumpfhosen verwendet und auf den großen Schwarzweißfotos direkt gegenüber der Skulptur sieht man, wie eine Tänzerin einsteigt in die Interaktion, ihre Arme und Beine in die Schlitze und Öffnungen hängt. Mal lässt sie sich halten von den schlanken Armen, dann dehnt und zieht sie selbst an ihr. Ein Foto zeigt die Frau vornübergebeugt vor der Wand, umgeben von einem Strahlenkranz aus Nylon.

Die im Jahr 1943 in Chicago geborene Künstlerin Senga Nengudi entdeckte nach der Geburt ihres ersten Kindes Strumpfhosen als Material mit dem sie auf die Elastizität des menschlichen Körpers anspielen, sie überdehnen und ausreizen konnte. Zunächst stopfte sie getragene Nylons aus, ließ sie rund und schwer erscheinen wie Brüste oder Hoden, flocht sie, spielte mit ihren Farben, den Hauttönen zwischen Pastell und dunkelstem Braun, kontrastierte sie mit dem dichten Schwarz eines Autoreifen-Schlauchs. Doch vor allem die Aktivierung sollte die Skulpturen der Serie "R.S.V.P." berühmt machen, deren Titel die höfliche Formulierung "Um Antwort wird gebeten" aufgreift. Die Tänzerin Maren Hassinger sagt, es sei eine spontane Idee gewesen, dass sie mit der "Nylon Mesh Series" interagieren solle als diese in einer Galerie in Los Angeles ausgestellt waren.

Die Fotografien, die dabei entstanden sind, gehören inzwischen zum Kanon der jüngeren amerikanischen Kunstgeschichte, schlagen eine Brücke zu Bildhauerinnen wie Louise Bourgeois oder Eva Hesse und zu einflussreichen Tänzern und Musikern wie Merce Cunningham und John Cage. Senga Nengudi hatte an der California State University nicht nur Kunst studiert, sondern auch Tanz und war als Jugendliche am Lester Horton Studio in Hollywood ausgebildet worden, wo man japanische, afrikanische und mesoamerikanische Traditionen aufnahm. Zudem hatte sie sich als Erzieherin am Pasadena Art Museum mit Happenings genauso beschäftigt wie mit Paul Klee.

"Niemand wollte mit ihr sprechen (...), weil sie keine ,Schwarze Kunst' machte."

Lange galt sie als Außenseiterin, vor allem am Beginn ihrer Karriere. Stephanie Weber, die das Werk als Kuratorin jetzt am Lenbachhaus in München in einer ersten musealen Retrospektive aufbereitet, setzt mit Senga Nengudis frühesten Arbeiten an, einer Reihe von postminimalistischen Skulpturen, die aus klarer Plastikfolie bestehen und mit bunt gefärbtem Wasser gefüllt sind. An kräftige Schiffstaue gehängt wirken die "Water Compositions", als habe man die kantigen, industriellen Formen von Donald Judd eingeschmolzen. Die so verspielten, singulären Experimente kamen nicht eben gut an - der Künstlerkollege David Hammons, mit dem sich Senga Nengudi viele Jahre ein Studio teilte, erinnerte sich daran, wie man die Werke als "empörend abstrakt" empfunden habe. "Niemand wollte mit ihr sprechen, weil wir alle politische Kunst machten. Sie ging nach New York, aber es wollte immer noch niemand etwas mit ihr zu tun haben, weil sie keine ,Schwarze Kunst' machte." Sogar in Genf, bei einer Gruppenschau schwarzer Künstler, wurde Nengudi angefeindet: Schweizer Jugendliche warfen ihr vor, nicht die schwarze Emanzipationsbewegung zu repräsentieren.

Biografisch stand Senga Nengudi, die mit ihrem Künstlernamen auf die Figur der weisen Frau im Dorf anspielt, dem Black Arts Movement durchaus nahe, das eine Rückbesinnung auf afrikanische Traditionen anstrebte und eine programmatische Verbindung von Politik, Kunst, Theater, Film und Literatur. Doch erst im Rückblick ist vielleicht zu erkennen, wie weit ihre Skulpturen und Aktionen der Kunst vorgreifen. Ein berühmtes Beispiel ist das "Ceremony for Freeway Fets": Im März 1978 verpflanzte Nengudi dafür ihre Nylonskulpturen aus der Galerie und dem Atelier hinaus auf die Straßen von Los Angeles. Unter einer Unterführung des Interstate Highways am West Pico Boulevard sollte - umtost vom Straßenverkehr - ihre Version eines afrikanischen Dorfes entstehen. Die einstündige Performance wurde wie ein Jazz-Konzert improvisiert, die Mitwirkenden trugen die Nylonskulpturen als Kopfschmuck oder Requisiten, während auf Saxophon, Klarinette, Congas und Kuhglocken improvisiert wurde. Viele der Mitwirkenden gehörten zum losen "Studio Z"-Verbund, dessen Zentrum das gemeinsame Atelier von David Hammons und Senga Nengudi war.

Dass Senga Nengudi nun international berühmt wird, erscheint fast zwangsläufig - nicht nur aufgrund ihrer Biografie als schwarzer Künstlerin, sondern auch weil sie früh zu einer Verbindung zwischen Bildhauerei und Performance fand und mit Textil arbeitete. Dennoch ist es vor allem die Wirkung von Einzelwerken, die sie zur Ikone machen. Die Aufnahmen von Maren Hassinger inmitten der Nylonstränge erinnert Kunsthistoriker an die berühmte Zeichnung, auf der Leonardo da Vinci einen menschlichen Körper in überlagerten Positionen zeigte. Der vitruvianische Mann sollte belegen, dass die Proportionen des menschlichen Körpers eine Analogie zu den Gesetzmäßigkeiten des Universums aufweisen. Stephanie Weber liest dagegen eine andere, vielleicht zeitgemässere Bedeutung aus den Fotografien: "Dass Kunst nicht nur soziales Miteinander vermittelt, sondern, im Umkehrschluss, Freundschaft ein so wertvolles wie robustes Material ist, das eine andere Form der Kunst hervorzubringen vermag.

Senga Nengudi. Topologies. Lenbachhaus, München. Bis 19. Januar. Der Katalog kostet 39,90 Euro.

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