Kunst:Die Schönheit im Kleinsten

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In ihrem Buch "Sonnenfalter und Mondmotten" zeichnet die Münchner Malerin und Schriftstellerin Anita Albus in Wort und Bild die wundersame Entwicklung der Schmetterlinge nach - eine Schule des Sehens

Von Antje Weber

Die Raupen mancher Bläulinge sind besonders dreist. Sie lassen sich als Diebe und Schmarotzer in Ameisennestern durchfüttern, verschlingen sogar hemmungslos die Ameisenkinder. Wenn sie dann aus ihrer Puppe schlüpfen, halten sie die empörten Wirte mit einer Klebesubstanz auf Abstand - und fliegen ihnen schließlich einfach davon.

Die Pracht der Schmetterlinge kommt eben nicht von ungefähr; ein komplizierter Prozess der Verwandlungen geht dem flatternden Falter voraus. Ein Buch von Anita Albus führt diese Metamorphosen nun so anschaulich wie bezaubernd vor Augen: In "Sonnenfalter und Mondmotten" (S. Fischer) versammelt sie akribisch zusammengetragenes Wissen, mit Anekdoten vom Totenkopfschwärmer bis zur gefährlichen Weberameise, mit Zitaten von Goethe bis Nabokov - und ergänzt das mit historischen Zeichnungen sowie erstaunlichen, in Kleinstarbeit gemalten eigenen Bildern zu einem Gesamtkunstwerk.

Das Schmetterlings-Buch der Münchner Malerin und Schriftstellerin wird derzeit nicht nur in den Feuilletons gepriesen, es verkauft sich auch gut: 7000 Exemplare eines teuren Prachtbandes, das ist schon einiges in diesen Zeiten. Spricht man mit Anita Albus über die Gründe, in ihrer geräumigen, stilvoll eingerichteten Altbauwohnung in Schwabing, dann sagt sie mit der ihr eigenen Trockenheit: "Bücher werden generell eher scheußlicher als schöner"; dieser sorgfältig hergestellte Band steche eben ins Auge, und: "Die Leute sind bei Insekten zögernd. Aber bei Schmetterlingen nicht - weil die so schön sind." Diese Schönheit hat für Albus mit der "Komplexität im Aufbau dieser Tiere" zu tun; sie habe sich sehr bemüht, sie verständlich darzustellen, sagt sie, zum Beispiel im schwierigen Kapitel über den Aufbau der Schuppen. Damit man "eine Ahnung davon bekommt, welches Wunder das eigentlich ist".

Beflügelnd: Anita Albus malt Schmetterlinge wie den Chrysiridia rhipheus. (Foto: Anita Albus, "Sonnenfalter und Mondmotten", S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2019)

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Anita Albus mit scharfem Auge der Natur zuwendet, auch wenn man das Buch über die Schmetterlinge vielleicht als eine Art Krönung ihres Werkes bezeichnen könnte; jahrzehntelanges Sammeln, Sehen, Denken fließen darin ein. Das gattungsübergreifende Werk der heute 77 Jahre alten Privatgelehrten, über Jahrzehnte in München und auf einem Schloss im Burgund entstanden, ist so breit angelegt wie tiefgründig; sie wurde dafür mit Preisen und Orden ausgezeichnet. Es begann mit einem illustrierten Kinderbuch in den Siebzigern, umfasst einen Briefroman ebenso wie eine Proust-Analyse oder zuletzt die Essaysammlung "Käuze und Kathedralen". Besonders erfolgreich war die Vogelkundlerin und Gärtnerin mit den opulenten Bänden "Von seltenen Vögeln" und "Das botanische Schauspiel". In "Die Kunst der Künste" wiederum erinnerte sie an die Malerei vergangener Jahrhunderte, an das verlorene Wissen von einst.

Nein, Anita Albus ist nicht einfach aus der Zeit gefallen: Sie hat sich vorsätzlich aus ihr fallen lassen. Im Sinne der alten Meister versucht sie, Wissenschaft und Kunst miteinander zu verbinden und greift zum Beispiel, aus einer Familie von Chemikern stammend, für ihre Miniaturen auf einstige Techniken zurück. Sie hat sich sogar "verstiegen", wie sie es nennt, für ihre Schicht auf Schicht legenden Aquarelle selbst Pigmente herzustellen; das alte Bleiweiß zum Beispiel, für das sie Gummi arabicum und etwas Honig braucht, vor allem aber "Geduld und Spucke". Drei Monate benötigt Anita Albus für einen Schmetterling, den sie aus ihrer Sammlung abmalt. Da es sich um lebensecht kleine Formate handelt, kann sie nur drei Stunden am Stück arbeiten, sonst sei sie "am nächsten Tag halb blind".

Anita Albus in ihrem Arbeitszimmer. (Foto: Catherina Hess)

Deshalb ist sie froh, zur Abwechslung auch schreiben zu können. Dafür benutzt Albus, schön altmodisch, eine elektrische Schreibmaschine. "Na ja, das ist ja uninteressant", sagt sie abwehrend, wenn man sie danach fragt. Und kann sich dann doch nicht zurückhalten, als sie über die digitale Welt spricht: "Wenn man durch die Straßen geht, alle Leute mit ihrem iPhone - das ist ja eine Form von Sklaverei! Kein Mensch guckt den anderen mehr an. Man guckt sich die Welt auch nicht mehr an." Führt das nicht zum Kern dessen, was ihr eigenes Werk ausmacht? Bestätigend ruft sie aus: "Schaut mal her!"

In der Schule des Sehens von Anita Albus geht es darum, das Große im Kleinen zu entdecken. Es geht darum, um es mit einem Satz des von ihr verehrten Schriftstellers Marcel Proust zu sagen, "mit all unseren Kräften das Eis zu zerbrechen, das sich durch Gewohnheit und Raisonnement unmittelbar auf der Wirklichkeit bildet und macht, daß wir sie nie sehen". Warum das so wichtig ist? Weil es nötig ist, wie Albus in einem Aufsatz einmal den Biologen Adolf Portmann zitierte, durch die Kenntnis der Natur "den Sinn für das in uns selber Verborgene und Fremde zu stärken, uns zu rüsten für die Erkenntnis des Ungeheuren, das in unserem eigenen Innern am Werk ist und das zu deuten und zu bewältigen eine unserer Lebensaufgaben ist".

Auch die Raupe des Isabellaspinners findet ihren Weg auf die Leinwand. (Foto: Anita Albus, "Sonnenfalter und Mondmotten", S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2019)

Man bewegt sich, wenn man sich mit dieser Gelehrten über solche Gedanken austauschen will, selbst auf dünnem Eis. Anita Albus, die sich mit jedem Recht als "detailverliebt" bezeichnet, entgeht keine Ungenauigkeit; die falsche Zuschreibung eines Zitats kann sie umgehend mit sanfter Stimme verbessern. Doch nein, wehrt sie wieder ab, auch sie merke sich nicht alles, es handele sich hierbei nur um Zitate, die zu ihren "Kernerkenntnissen" gehörten.

Man müsste, um alle ihre Kernerkenntnisse zu würdigen, nun eigentlich noch den Ethnologen Claude Lévi-Strauss zitieren - den sie sehr schätzt in seiner "Liebe zur Natur" und der auch ihre Arbeit sehr schätzte. Man kann aber auch zu einem Zitat von Albus selbst springen: "Die Milbe bleibt Milbe, die Spinne Spinne, nur Homo sapiens ist im doppelten Wortsinn ein fragwürdiges Wesen." Sind ihr die Tiere lieber als die Menschen? So einfach lässt sich das nicht beantworten; doch man kann festhalten, dass die Entwicklung des Homo sapiens, der "an dem Ast sägt, auf dem er sitzt", ihr manchmal etwas fremd ist.

Anhand einer Zeichnung der Cavaillon-Melone erklärt Anita Albus das Wellenmuster der Flügel einiger Falterarten. (Foto: Anita Albus, "Sonnenfalter und Mondmotten", S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2019)

Das gilt auch für die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst, in der sie immer eine Stellung am Rande hatte. Anita Albus hat in den Jahrzehnten ihres Schaffens selten ausgestellt. Die einzige Ausstellung in München ist unfassbare vierzig Jahre her, 1980 in der Villa Stuck. Auch ihre Sammlung wollte hier keiner erwerben, obwohl sie "alles versucht" hat, "aber es hat niemanden interessiert". Jetzt ist ihr Lebenswerk nach Kiel gewandert. Ihre Schmetterlinge aber sind noch hier, und ein wenig schade findet sie es dann doch, dass kein Museum die mal ausstellen will, "aber da rührt sich bis zum heutigen Tag nichts". Dabei haben sich die Gewichte in der Kunst verschoben, "jetzt darf man ja auch schon wieder figurativ sein, aber es muss dann irgendein Knüller mit im Spiel sein", sie lacht. Heute müssten Bilder ja auch möglichst großformatig sein: "Alles das, was ich mache, ist eben das Gegenteil." Immerhin, ein Wandel lässt sich erkennen: Als Albus vor vielen Jahren einmal das Atelier von Daniel Spoerri in der Akademie der Bildenden Künste benutzen durfte, weil bei ihr zu Hause eine Stuckdecke herabgefallen war, blickten die vorbeikommenden Studenten entgeistert auf ihre Blumen. Inzwischen, so hat sie gehört, lesen Studierende ihr Werk "Die Kunst der Künste", und das sei ja "doch erstaunlich".

Vielleicht also kommt auch noch die Zeit der Miniaturen einer Anita Albus, die eben nicht die Freiheit der Kunst gewählt hat, sondern sich dem realistischen Abbilden verschrieben hat - aber halt, das stimmt natürlich auch nicht ganz. Denn auch ihre Bilder sind ja Interpretationen der Wirklichkeit: "Wenn ich einen Waldrapp gemalt habe, dann habe ich ihn in einer Weise gemalt, wie man ihn nie wirklich wird sehen können", sagt sie, weil man nie das ideale Licht habe, um das ganze Spektrum dessen Farbgefieders zu sehen: "Es sind idealisierte Bilder."

Die einzige Ausstellung ihrer Bilder in München ist vierzig Jahre her: 1980 in der Villa Stuck. (Foto: Anita Albus, "Sonnenfalter und Mondmotten", S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2019)

Und jetzt ist es wirklich Zeit, ein paar von ihnen anzusehen. Anita Albus führt in ihr Arbeitszimmer, zieht die Schubladen einer Kommode auf und verfügt: "Sie dürfen nicht sprechen, wenn Sie die Bilder angucken." Und so bewundert man still den Isabellaspinner, danach ein Trogonoptera-Weibchen; die Malerin hält das Blatt ans Fenster und bewegt es sacht, um das Farbenspiel vorzuführen. Zum Schluss zeigt sie Chrysiridia rhipheus, den "schönsten aller schönen Irisierer", wie sie im Buch schwärmt, changierend in allen Farben des Regenbogens. Das originale Aquarell schillert noch eindrucksvoller als im Buch; nichts ersetzt eben die direkte Anschauung. Man muss schon genau hinsehen, um eine Ahnung von den Wundern der Natur zu bekommen. Und vom Wunder der ganz besonderen Annäherung an die Natur durch Anita Albus.

Am Mittwoch, 5. Februar, stellt Anita Albus ihr Buch im Literaturhaus vor.

© SZ vom 30.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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