Kunst in Athen:Die Documenta - durch und durch politisch

Migration, Flucht, Vertreibung: Die 14. Weltkunstschau, die heute in Athen eröffnet, thematisiert die große Bewegung der Gegenwart.

Von Catrin Lorch, Athen

Eine Mutter sitzt vor dem Ofen. Sie fleht, das Brot solle nicht aufgehen. Damit der Sohn, der auf seinen Proviant wartet, sein Schiff verpassen wird. Der Künstler Emeka Ogboh hat das alte griechische Lied auf zwölf Lautsprecher in einem Gewölbe verteilt. Über die Wände des düsteren Saals ziehen Börsenkurse. Das Licht der LED-Schrift färbt flackernd, je nach Lage der Märkte, den Raum in mattes Blau, Rot oder Grün. "The Way Earthly Things Are Going" ist der Titel der Arbeit, und das unaufhörliche Auf und Ab von "GOOG", "AFCB" und "YHOO", so die Kürzel, hat etwas vom Wellengang, von Gezeiten. Im Nachbarsaal ist die Stimme des Künstlers Hiwa K zu hören, der auf die Frage nach seinem Ausgangspunkt antwortet: "Meine Füße. Füße, die niemals still stehen."

So eine Setzung hat es in der Kunst seit Beuys nicht mehr gegeben

Der heimatlose Kurde Hiwa K war der erste Künstler, der offiziell zur Documenta 14 eingeladen wurde, die an diesem Wochenende in Athen eröffnet, und auf der es unzählige Werke gibt, die diese große Bewegung der Gegenwart thematisieren - Migration, Flucht, Vertreibung. Auch die Documenta ist gewandert. Die 14. Ausgabe der Weltkunstschau beginnt in diesem Jahr in Athen, bevor sie zwei Monate später in Kassel Vernissage feiert. "Die Entscheidung", so der künstlerische Leiter Adam Szymczyk, "folgte aus dem Gefühl, dass es notwendig sei, in Echtzeit und in der echten Welt zu agieren. Die Welt kann nicht ausschließlich von Kassel aus erklärt, kommentiert und erzählt werden - aus einer Perspektive, die allein in Nord- und Westeuropa verortet ist." "Learning from Athens", sein Titel, wurde zum Credo: "Von Athen lernen".

Nun unterhielt schon die Documenta 13 weitere Spielorte in Banff und Kabul, und Kurator Okwui Enwezor lud zuvor zu Konferenzen auf alle Kontinente ein. Aber das Konzept ist diesmal ganzheitlich. Ein Teil des Teams wanderte für die Dauer der Vorbereitung nach Athen aus. Und jeder der mehr als 160 geladenen Künstler sollte an beiden Orten ausstellen, in Kassel und in Athen. Ganz gleich ob man das als Verdoppelung der Ausstellung rechnet oder die Idee der Wieder-Aufführung bemüht, so eine Setzung hat es in der Kunst nicht mehr gegeben, seit Joseph Beuys als Professor an der Akademie in Düsseldorf seine Klasse für jeden öffnete, der dort studieren wollte, und so den Begriff der Sozialen Plastik prägte, einer Kunst, die in die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse eingreift.

Manche Bürger von Kassel reagierten beleidigt. Auch in der griechischen Metropole waren viele nicht begeistert. Der politisierte Teil der Szene fürchtete die Kolonisierung durch die deutsche Subventionskunst. Zudem wollte man nicht als Kulisse für Katastrophen-Kulturtourismus herhalten. Und während Griechenland im Jahr 2013 bei der Berufung Szymczyks vor allem ein Synonym für die EU-Schuldenkrise war, kam zwischenzeitlich noch der Bürgerkrieg in Syrien dazu, Tausende durchqueren als Flüchtlinge das Land, die Finanzminister der EU verhandelten einmal mehr Griechenlands Schulden, während die USA zum ersten Mal Raketen auf das nahe Syrien abfeuern. Bundespräsident Frank-Walther Steinmeier reist persönlich zur Eröffnung an. Es ist nun an der Kunst, etwas beizutragen, einen Ausdruck zu finden für die Krisen der Gegenwart.

Der Kontrast aus Kunst und Zerfall hat Strahlkraft

Die Documenta hat sich dafür in den jungen Ruinen eingerichtet, die solche Krisen hinterlassen. Dieser Kontrast aus Kunst und Zerfall hat Strahlkraft. Schon die erste Documenta präsentierte im Jahr 1955 die Werke der Moderne in notdürftig hergerichteten Sälen des im Krieg zerstörten Fridericianums. In Athen ist die Documenta unter anderem in eine ehemalige Textilfabrik gezogen, in unfertige Hallen im Keller des Konservatoriums und in die ehemalige Fix-Brauerei, die zum Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst (EMST) umgebaut wurde. Dieses Museum kann seit fünf Jahren nicht eröffnet werden, weil unter dem EU-Spardiktat die Mittel zum Betrieb nicht freigegeben werden.

Doch anders als die erste Documenta und viele Biennalen triumphiert die Kunst in Athen nicht über diese Orte, sondern nutzt sie für Verweise und Ansagen. Den Auftakt in dem ersten langen Saal des Nationalmuseums darf Beau Dick geben. Der Künstler stammt von Kwakwaka'wakw-Indianern ab und schnitzt Masken - Rabenköpfe, Krummschnäbel, Hasenschädel, kalkweiße Fratzen, die, nur sparsam in Rot, Grün und Schwarz markiert, in einem dramatischen, an Rituale gemahnenden Kreis stehen. Solche generösen Heimholungen sind nichts Neues in der Kunst; schon die Moderne hat die Primitiven generös eingemeindet in den Kanon.

Doch die Botschaft in Athen ist subversiv und zielt nicht auf die Nobilitierung von Stammeskunst. Eher im Gegenteil. Ein Schild am Sockel weist darauf hin, dass solche Atlakin-Masken nach vier Tänzen zeremoniell verbrannt werden. Im Mai steht das Ritual wieder an, dann werden einige der Exponate nach Kanada zurück geflogen. Kann sein, dass der eindrucksvolle Kreis sich niemals wieder schließt. Aus der Perspektive eines Museums ist es undenkbar, dass ein paar Ureinwohner ihm seine Exponate entziehen, und es vorziehen, sie zu verbrennen, statt sie Konservatoren und Restauratoren zur Pflege und Erhaltung zu übergeben. Die Masken schlagen das Angebot der Kunst - Anspruch auf Ewigkeit - aus für das Versprechen, dass sich ihr Leben in der Zerstörung endgültig vollendet.

Weder Kunststile noch Gattungen sind von Belang

Die Documenta 14 fordert mit diesem zentralen Saal ein anderes Verständnis von Kunst ein. Die Analyse der Künstlerin Irena Haiduk bringt es auf den Punkt: "Das Verhältnis des Westens zur Kunst entspricht seinem Umgang mit allen Dingen, auch Menschen, die er allesamt als verfügbaren Rohstoff" begreift. In gewisser Weise gleicht die Künstlerin Irena Haiduk dem Stamm, der die Kunst aus ihren Verstrickungen mit diesen Verhältnissen löst. Sie stellt jetzt lieber Schuhe her als Skulpturen und hat ein Schaufenster in einer marmorgefliesten Passage angemietet, in der schon lange nichts mehr verkauft wird. Nur Haiduks Laden "Yugoexport" ist geöffnet. Die Künstlerin hat die jugoslawische Firma, die einst mit Kleidung, Schuhen und Waffen handelte, in Chicago neu gegründet. Weil es unter den Bedingungen des Marktes derzeit günstiger ist, als Serbin eine Firma nicht in Belgrad neu zu beleben, sondern in den USA.

Im Programm sind Theateraufführungen, Radiosendungen, Konzerte aufgeführt

Der Lebenszyklus von Kunstwerken, das Sterben ganzer Industrieregionen, die Produktion unter den Bedingungen des globalen Handels, der Konsum und das Ritual des Potlatschs finden so zueinander. In den Sälen des EMST beherrscht der Film von Wang Bing eine der größten Leinwände: Der Chinese beobachtet die Arbeit in einem Sweatshop in Echtzeit. Stundenlang rattern die Nähmaschinen.

In einem Industriegebiet unweit des Museums nimmt unterdessen Aboubakar Fofana die Produktion auf. Wochenlang musste er darauf warten, dass die griechischen Zollbehörden ihm sein Indigo-Blau aushändigten. Endlich kann er damit anfangen, eine Herde Lämmer blau einzufärben. Die Zeit hat gegen ihn gearbeitet, die Schafe sind gewachsen, er braucht jetzt zwei, drei Helfer, um sie in die blaue Flüssigkeit zu tunken. Das Kunstpublikum soll die Tiere auf dem Gang zu Weideplätzen begleiten, den Fofana als althergebrachte, alltägliche Migration begreift. Im Mai wird aus ihrer Wolle ein Teppich gewebt. Ist das Konzept von "Afrika Segen" die Kunst? Oder die Metapher von den Weideplätzen? Oder der Teppich?

Für die Documenta sind solche Fragen nicht mehr von Bedeutung. Weder Kunststile noch Gattungen sind von Belang. Im Programm sind Theateraufführungen, Radiosendungen, Konzerte aufgeführt. Und irgendwo in der Stadt wispern die Lautsprecher, die Pope L versteckt hat, geheime, versponnene Gerüchte. Das alles hat Platz auf der Documenta 14, wie auch die Malerei. Zur Überraschung vieler Kritiker, die fürchteten, die Documenta werde womöglich die klassischen Gattungen aussperren. Doch die aktuelle Kunst ist nicht so respektlos, alte Konflikte wie einen Gattungsstreit mit Bildhauerei oder Malerei anzuzetteln.

Die Gemälde von Miriam Cahn und Edi Hila haben einen großen Auftritt, und sogar amerikanische Farbfeldmalerei hat mit den freihändig gezogenen Rastern von Stanley Whitney ihren Raum - neben Entdeckungen wie dem kongolesischen Maler Tshibumba Kanda Matulu, der Pressekonferenzen, Putschversuche, Staatsbesuche in freundlichen Farben und dem Format des Kleinposters ausmalt.

Einen Paradigmenwechsel fordert man nicht ein, den provoziert man

So ist die Documenta 14 durch und durch politisch, ohne in den gefälligen Monumentalismus zu verfallen, der in der Öffentlichkeit gerade so erfolgreich ist. Doch ragen nur wenige Künstler heraus, die Ort und Zeit wirklich anpacken. Wie Daniel Knorr. Er ist zu Füßen der gewaltigen Akropolis als Archäologe unterwegs, macht sich aber nur an der obersten, der jüngsten Schicht zu schaffen. "Die Stadt drückt alles, was sie absondert, an ihre Ränder", sagt Knorr und sammelt in den Vororten der Vier-Millionen-Metropole Spielzeug, Foto-Alben, Pässe oder Revolverhalfter ein und die gelben laminierten Bezugsscheine, auf denen mit der Lochzange markiert ist, ob ein Flüchtling schon seine Ration Windeln, Zahncreme und Toilettenpapier erhalten hat. Im Innenhof des Konservatoriums türmt sich ein Berg Müll, aus dem er Fundstücke auswählt, die er mit schwerem Gerät zwischen Buchseiten presst, als Archäologe, Historiker, Verleger und Autor in Personalunion. In "Materialisation" zeichnet sich die Gewalt ab, die in jeder Geschichtsschreibung steckt. Nur wenige Werke drehen so am großen Rad wie Daniel Knorr.

Man muss der 14. Documenta zugestehen, dass sie sich weit entfernt hat von der Kunst, die auf Messen, Biennalen und Blockbuster-Schauen gezeigt wird. Sie ist eine sanfte Utopie, ein exterritorialer Ort, an dem die Künste und die Künstler miteinander arbeiten, ausstellen und feiern. Nicht einmal die Aktivisten der griechischen Kulturszene störten die Documenta-Schule von Athen. Selten zeigte sich die bildende Kunst so weit und offen.

Adam Szymczyk, einer der schärfsten Denker und präzisesten Kuratoren der Gegenwart, hat viel von seiner Autorität aufgegeben zugunsten einer von Respekt und Vielstimmigkeit beherrschten Atmosphäre. Sogar ein Billboard von Hans Haacke, einem zuverlässigen Unruhestifter der Kunst, auf dem in zwölf Sprachen zu lesen steht "We (all) are the people", wirkt altersweise, fast milde.

Das wird allerdings nicht reichen. Damit kann die Documenta ihren eigenen Anspruch auf Veränderung nicht erfüllen. Einen Paradigmenwechsel fordert man nicht ein, den provoziert man. So ist die erste, die Athener Premiere der Documenta 14 noch kein "Raumakkord", um den großen Dichter und Musiker Sun Ra zu zitieren. Wann immer Sun Ra den Musikern seines Arkestras eine Unterbrechung oder einen Richtungswechsel vorgeben wollte, gab er das Zeichen für so einen "Raumakkord", einen Toncluster, den die Band in ohrenbetäubender Lautstärke spielte. Auf den wartet jetzt Kassel.

Documenta 14 in Athen bis zum 16. Juli. In Kassel vom 10. Juni bis zum 17. September. Weitere Informationen: www.documenta14.de

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