Im Jahr 1920 notiert Ernst Ludwig Kirchner in seinem Tagebuch: "MARC ist überhaupt indiskutabel. Kitsch á la KANDINSKY. Wie wenig müssen die Herren Kunsthistoriker sehen und fühlen, dass sie solches überhaupt ansehen können." Nein, eine wirkliche Einheit hatten sie nie gebildet, die deutschen Expressionisten. Kirchner war der Primus inter pares unter den Malern der Dresdner Künstlergruppierung "Die Brücke" gewesen, Franz Marc, den bereits 1916 als Soldat bei Verdun ein Granatsplitter tödlich getroffen hatte, mit Wassily Kandinsky Gründer des Münchner "Blauen Reiters".
Als Kirchner den wenig schmeichelhaften Eintrag vornahm, war die Hochzeit des deutschen Expressionismus, zumindest in der Malerei, bereits vorüber: Von 1905 bis 1914, von der Gründung der "Brücke" bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur hatte diese revolutionäre, vielgestaltige Strömung in der Kunst geflackert. Wie extrem unterschiedlich die Herangehensweise von nominellen Expressionisten wie Marc und Kirchner war, zeigt sich bereits im ersten Raum der Ausstellung "Brücke und Blauer Reiter" im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum.
Es ist die erste gemeinsame Schau dieser beiden Gruppen seit einem Vierteljahrhundert. Zu sehen sind 160 Hauptwerke, 90 Gemälde und 70 Arbeiten auf Papier. Das Von-der-Heydt-Museum hat etwa die Hälfte der Exponate aus seiner immensen Sammlung beigesteuert. Die andere Hälfte stammt aus den Beständen des Buchheim-Museums in Bernried am Starnberger See und der Kunstsammlungen Chemnitz, sowie weiteren Leihgebern. Die Kooperation mit Bernried und Chemnitz ist die erste derartige Zusammenarbeit, und das Ergebnis ist grandios.
"Expressionismus" taugt als Oberbegriff für die stilistische Vielfalt kaum
Besonders die Radikalität Franz Marcs, dessen blaue Pferde und gelbe Kühe heute auf Postern als Deko Verwendung finden und ihm wohl auch den Kitschvorwurf seines Kollegen Kirchner einbrachten, diese Radikalität kann man sich im Kontext der Schau noch einmal vor Augen führen. Sein Abrücken von einer anthropozentrischen Weltsicht, das Bestreben, Dinge und Kreaturen so abzubilden, wie sie sich der Vorstellung des Künstlers nach selbst wahrnehmen, wird in der Gegenüberstellung mit Kirchner besonders deutlich: Marcs "Akt mit Katze" von 1910, eine Frau, die eine gelbe Katze mit Milch füttert, rund und weich, in sich ruhend, steht an einem Ende der atmosphärischen Skala. Kirchners Aquarell gleichen Titels von 1918 befindet sich am anderen, gleichsam verruchten Ende: Die grauweiße, hingeräkelte Gestalt blickt den Betrachter herausfordernd lächelnd an, während ihr eine schwarze Katze, anscheinend zum Sprung bereit, zwischen ihre gespreizten Schenkel starrt.
Angesichts der Materialfülle wird besonders deutlich, dass "Expressionismus" als Oberbegriff nur sehr unzureichend die stilistische Vielfalt all dieser Künstler erfasst. Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Otto Mueller, Erich Heckel, Max Pechstein und Emil Nolde innerhalb der Brücke, Marc, Kandinsky, die oft zu Unrecht vernachlässigte Marianne von Werefkin, Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky und Paul Klee beim Blauen Reiter entwickeln eine Reichhaltigkeit an Stilen, die jede begriffliche Klammer sprengt. Dabei werden nicht nur die Unterschiede zwischen den ästhetischen Ansätzen der Brücke und des Blauen Reiters sichtbar - von Symbolisten wie Alfred Kubin, Solitären wie Klee und ebenso wichtigen wie problematischen Figuren wie Nolde ganz abgesehen -, sondern auch die Bruchstellen innerhalb der Gruppen.
Das gilt insbesondere für den Blauen Reiter, der ja keine Künstlergemeinschaft, sondern ein publizistischer Oberbegriff war. Er umfasste die kuratorische Tätigkeit Franz Marcs und Wassily Kandinskys und gab auch dem von ihnen herausgegebenen Almanach seinen Namen. Der Blaue Reiter verdankte seine Existenz der Ablehnung der konservativeren Kräfte innerhalb der Neuen Künstlervereinigung München, von der Kandinsky und Marc immer weiter abgerückt waren. Während zum Beispiel das Frühwerk Münters und Kandinskys noch große Übereinstimmungen in Palette und Farbstruktur aufweist, entwickeln sich die langjährigen Lebenspartner zusehends auseinander: Münter wird reduzierter im Gestus, während Kandinskys Bestreben, "synästhetisch" zu arbeiten, in grandiosen, mehrfach überformten Abstraktionen wie der "Improvisation Sintflut" von 1913 mündet.
Der zupackendere, vermeintlich homogenere Stil der Brücke-Maler, die Anlehnungen an den sogenannten "Primitivismus", an Cézanne, Matisse und Gauguin, wurde lange Zeit als bewusster Schritt betrachtet, als eine Auflösung der einzelnen Künstlerpersönlichkeiten in einer Gruppenästhetik. Von-der-Heydt-Direktor und Ko-Kurator Roland Mönig sieht darin eher eine Entwicklung, die sich organisch aus der engen Zusammenarbeit und dem gemeinsamen philosophischen Ansatz ergab. Die zahlreichen Badeszenen, großenteils rund um Dresden entstanden, die reduzierte Figurenzeichnung und der allgemeine Eskapismus in ein libertinistisches Gruppenleben - mit nicht nur nach heutigen Maßstäben bedenklich jungen weiblichen Modellen - amalgamierten die Gruppe stilistisch.
Sie träumten vom Menschheitsaufbruch, von der Südsee und vom Krieg
Der Expressionismus träumte von einem universellen Umbruch, der Überwindung des logos, einer neuen Menschheitsentwicklung, was durchaus orientalistische Fluchten oder Südseefantasien in der Nachfolge Gauguins einschloss (der nigerianische Künstler und Kunsthistoriker Frank Ugiomoh hat im Katalog zum Thema Primitivismus und Kolonialismus ein lesenswertes Kapitel beigesteuert). Der Weltkrieg erschien als der ersehnte Katalysator. Marc glaubte, wie so viele europäische Intellektuelle, das "kranke" Europa werde an diesem Konflikt "gesunden". Erst zwei Jahre nach Kriegsausbruch und kurz vor seinem Tod notierte er: "Die Welt ist um das blutigste ihres vieltausendjährigen Bestehens reicher."
Die Komplexität der Wahrnehmung der Expressionisten ergibt sich nicht zuletzt aus diesem historischen Umfeld ihrer Arbeit und der späteren Entwicklung derer, die, anders als Marc und August Macke, den Ersten Weltkrieg überlebten, - ausgewandert wie der russische Staatsbürger Kandinsky oder, trotz der Verfemung seines Werks als "Entartete Kunst", zum Nazi geworden wie Nolde. In Wuppertal beweist der Expressionismus seine große und faszinierende Heterogenität, die sich im Werk der Brücke und des Blauen Reiters zu deren kurzer Blütezeit manifestierte.
Brücke und Blauer Reiter . Von-der-Heydt Museum, Wuppertal. Bis 27. Februar. Anschließend in den Kunstsammlungen Chemnitz und im Buchheim-Museum, Bernried. Der Katalog kostet 34 Euro.