Kunst:Der Menschenfreund

Rembrandt zeigte das ganze Leben - seines und das seiner Zeitgenossen. Zum 350. Todestag feiern die Niederlande den Maler und Zeichner in mehreren großen Ausstellungen.

Von Kia Vahland

Ein bisschen merkwürdig ist es schon, die Todesjahre berühmter Menschen zu begehen: Was gibt es am Tod zu feiern? Rembrandt starb vor 350 Jahren, am 4. Oktober 1669, und in Amsterdam und Den Haag würdigen ihn aus diesem Anlass große Ausstellungen. Schließlich ist der Maler, Zeichner, Kupferstecher für die Niederlande das, was Leonardo da Vinci für Italien ist und der so europafreudige Albrecht Dürer für die Deutschen sein könnte: eine Identifikationsfigur für alle Generationen.

Also strömen die Leute in den monströsen Bau des Amsterdamer Rijksmuseums, das auf großen Bannern "Alle Rembrandts" verspricht, genauer: alle, die das Museum mit seiner weltgrößten Rembrandt-Sammlung besitzt. Das sind 22 Gemälde aus diversen Schaffensphasen, 60 selten gezeigte Zeichnungen und 1300 Radierungen, wovon die besten 300 Abzüge nun gezeigt werden. Für viele der Kupferstiche wäre eine Lupe hilfreich, sie sind kaum größer als eine Briefmarke, haben also ein Format, das gemeinhin als nicht ausstellbar gilt. Das stört die Besucher nicht, im Gegenteil, geduldig stehen sie in jedem Saal vor den Bildchen an.

Und werden belohnt. Was Rembrandt dem Papier entlockt, ist ganz großes Theater. So bescheiden dieser Künstler auftrat, so viel wollte und erreichte er: alle Gefühle zeigen, die schönen wie die schwierigen; allen Lebenslagen gerecht werden, dem Reichtum wie der Armut, der Krankheit wie der jungen Liebe. Jeden nimmt er in den Blick, die Bestimmer und die Bettler, die Kinder und die Greise, die Amsterdamer Trinker und die biblischen Helden.

Jetzt soll Rembrandt ein Rebell gewesen sein. Früher galt er vor allem als cleverer Unternehmer

Das Ergebnis ist ein soziales Weltenpanorama, eine beinahe reportagehafte Chronik des Lebens - die so außergewöhnlich berührend ist, weil ihr Schöpfer sich berühren lässt von dem, was er sieht und erlebt. Da ist das mit nur wenigen Federstrichen umrissene Kleinkind, das eine Pfannkuchenbäckerin am Straßenrand sieht. Das Wasser läuft ihm im Mund zusammen, was sich ja eigentlich nicht darstellen lässt. Rembrandt aber gelingt es. Auch im schnellen Strich weiß er, was eine Figur antreibt. Und dies ist ein gieriges Kerlchen, das der Bäckerin am liebsten in den Teig greifen würde.

Überhaupt, die Kinder. Der 1606 geborene Sohn eines Müllers scheint sich genau zu erinnern, wie es sich anfühlt, wenn man klein ist und andere über einen entscheiden. Auf einer Tuschzeichnung schickt Abraham seine Geliebte Hagar weg, weil seine Frau Sarah das will. Hagar lehnt sich ein letztes Mal an seine Schulter; der gemeinsame Sohn Ismael steht verunsichert daneben und scheint vor dem Segensgestus seines Vaters zurückzuweichen, hat der ihn doch gerade verraten. Auch sein Hund lässt den Kopf hängen.

Rembrandt sympathisiert mit den Schwachen, darum muss und wird ihn kein Auftraggeber gebeten haben. Leprakranke zeigt er nicht als Monster, sondern als Gebeutelte, welche ihre Mitmenschen mit langen Stöcken rücksichtsvoll auf Abstand halten, damit die sich nicht anstecken. Überhaupt gibt der Künstler niemanden der Lächerlichkeit preis. Er lacht mit den Leuten, nicht über sie. Selbst eine Frau, die ihre Notdurft am Wegesrand verrichtet, tut dies bei Rembrandt in Würde.

Als "Rebell" wollen ihn die Ausstellungsmacher verstanden wissen. Mag sein. Allerdings war Rembrandt in seinem dreieinhalb Jahrhunderte währenden Nachleben schon viel. Den Fürsten des 18. Jahrhundert galten seine Werke als Trophäen, um die sie konkurrierten. Und das geschichtsbeseelte 19. Jahrhundert bejubelte ihn erst als Historienmaler und Meisterradierer, um ihn dann völkisch zu vereinnahmen.

In den Jahren 1890 und 1891 erschienen 39 Auflagen des Bestsellers "Rembrandt als Erzieher" von dem deutschen Nationalisten Julius Langbehn. Als "Niederdeutscher" wird Rembrandt hier gegen Rationalität, Liberalismus und Kosmopolitismus der Moderne ausgespielt, was die Nazis später dankbar aufgriffen.

In den vom Spätkapitalismus noch nicht gar so gebeutelten Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts interessierte der Mann aus Leiden vor allem als Unternehmer. Das war auch deshalb relevant, weil das Amsterdamer Rembrandt Research Project um den Kunsthistoriker Ernst van de Wetering dafür sorgte, zahlreiche Fehlzuschreibungen aus dem Korpus eigenhändiger Werke auszusortieren und sie wieder der Werkstatt des Meisters zuzuordnen.

Dieser Prozess der Klärung ist für das Verständnis dieser Kunst wichtig, zumal Marktkräfte dem immer noch entgegenwirken (gerade will ein Händler wieder einen Rembrandt "entdeckt" haben). Doch diese Sicht kann, wenn sie die einzige ist, den Blick auch verengen: Rembrandt mit seiner facettenreichen Persönlichkeit voller biografischer Brüche ist viel mehr als nur ein Unternehmer, und seine Kunst geht nicht nur Kenner etwas an.

Insofern tut es Rembrandts Werken gut, jetzt mit frischem Blick betrachtet zu werden. Sie sind so vieldeutig, dass jede Generation sich von Neuem in ihnen wiederfinden kann. Rembrandt bietet seinem Publikum dafür sein eigenes Gesicht als Spiegel an. Das ist sein liebstes Sujet, er zeigt es überrascht und ärgerlich, freudig und verängstigt, ohne sich je für seine Knollennase und die teigige Haut zu schämen. Schließlich verschönert er ja auch andere Modelle nicht.

Gleich im ersten Saal schaut einen der Künstler als verschlafener Dandy vor seiner Zeit an. Die wuschelige Out-of-bed-Frisur hat der Zeichner mit dickem Pinsel aufgetragen; schon mit Anfang 20 bemüht er sich, nur den Moment einzufangen. Gleichzeitig spielt er in einem Ölgemälde mit Licht und Schatten. Beinahe im Dunkeln liegen die Augen dieses Selbstporträts und nehmen doch Kontakt mit den Menschen vor dem Rahmen auf. Später verkleidet er sich in altertümliche Kostüme, schlüpft in biblische Rollen. Sein Thema bleibt die menschliche Wandlungsfähigkeit.

Auch seine Liebsten harren vor der Staffelei aus. Seine Mutter erscheint als müde Matrone, sein Sohn Titus als Mönch. Und seine erste Frau Saskia gibt mal die alttestamentarische Esther, mal die heilige Katharina. Dann erkrankt sie, das Spiel ist vorbei. So ehrlich wie traurig zeigt Rembrandt nun die leidende Frau in ihrem Haus.

Ergänzt wird die Schau durch eine Ausstellung im Amsterdamer Rembrandthuis, die sich dem Netzwerk des Künstlers widmet und seinen beinahe freundschaftlichen Kontakten zu Modellen quer durch die bessere Amsterdamer Gesellschaft. So erklärt sich auch, wie es ihm gelang, zu überleben, nachdem Saskias Tod 1642 ihn in eine Krise gestürzt hatte und er Konkurs anmelden musste. Sein Unternehmen führten dann sein Sohn Titus und seine neue Lebensgefährtin Hendrickje Stoffels. Rembrandt malte für die beiden und hielt sich offiziell aus den Geschäften heraus.

Bald wird die "Nachtwache" restauriert. Das Publikum kann die Arbeit im Livestream verfolgen

Um Rembrandt als Maler zu verstehen, lohnt ein Ausflug nach Den Haag. Vieles, was die Könige des Landes über Jahrhundert gesammelt haben, hängt im dortigen Mauritshuis. Die Kuratoren der aktuellen Rembrandt-Schau zeigen auch Gemälde, die heute nicht mehr als seine eigenen gelten. Leider versäumen sie es, zu erläutern, warum dieses vom Meister stammen soll und jenes von den Schülern. Manches aber erklärt sich von selbst, etwa das nach langer Restaurierung wieder zuerkannte Gemälde, auf dem der junge David Harfe spielt für den depressiven König Saul. Mit dem Zipfel eines roten Samtvorhangs wischt der sich die Tränen weg und schützt sich gleichzeitig vor Davids Blicken - nicht aber vor denen der Betrachter.

Die nächste Restaurierung, auf die man gespannt sein darf, ist die der "Nachtwache" im Rijksmuseum. Kein Werk ist den Niederländern so wichtig wie das großformatige Actionporträt der Schützengilde von Amsterdam aus dem Jahr 1642. Das Museum hat sich für Transparenz entschieden und wird die Restaurierung ab 2020 im Livestream übertragen.

Die Dynamik, welche die "Nachtwache" mit ihren schießenden und trommelnden Männern und dem darüber staunenden Kind ausstrahlt, kündigt sich in Rembrandts Malerei schon früher an. 1632 bringt er eine Runde Doktoren in Bewegung. Unter der Leitung des Anatomen Nicolaes Tulp sezieren sie mit aufgerissenen Augen die Leiche eines Gehenkten. Eigentlich wollte Rembrandt ihn ohne rechte Hand zeigen, die ihm wegen früherer Straftaten amputiert worden war. Das aber war wohl zu realistisch. So blieb die Zerstörung des Körpers im Bild Tulps Privileg.

Blass liegt der Verbrecher da, und doch scheint er gerade erst ausgeatmet zu haben. Er bleibt ein Mensch, auch lange nach seinem Tod und nach dem seines Malers.

Alle Rembrandts. Rijksmuseum, Amsterdam. Bis 10. Juni. Rembrandt. Mauritshuis, Den Haag. Bis 15. September. Rembrandts Netzwerk. Rembrandthuis, Amsterdam. Weitere Infos zur Forschung unter rembrandtdatabase.org.

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