Süddeutsche Zeitung

Kunst:Der Anfänger

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Was haben Berge und Möbel, Haushaltsgegenstände und Menschen gemein? Paul Cézanne sucht in seiner Malerei nach formalen Ähnlichkeiten. Wie er damit die Kunst veränderte, zeigt eine Ausstellung in Karlsruhe.

Von Gottfried Knapp

Der Film, den die Kuratoren der Kunsthalle Karlsruhe als Einführung in ihre großartige Cézanne-Ausstellung haben drehen lassen, beginnt mit der Überblendung eines Gemäldes von Cézanne in ein zweites. Das erste Bild zeigt eine unordentlich über einen Stuhl geworfene steifleinene weiße Jacke, die wie ein beschneiter Berggipfel in die Höhe ragt und von Schrunden und Höhlen durchzogen ist. Dieser Haufen Stoff beginnt im Film langsam zu verschwimmen - und man sieht, wie sich die Umrisse eines realen Bergs in die verblassenden Konturen der Jacke schieben, wie sich dort, wo eben noch der Kragen der Jacke schräg in die Höhe stand, der Gipfel der Montagne Sainte-Victoire abzuzeichnen beginnt, also jenes Bergstocks, dessen charakteristische Silhouette von Cézanne so oft auf Leinwand oder Papier gebannt worden ist. Ein Bild aus der Ausstellung mutiert also in ein inhaltlich völlig anderes Bild, ja die stilllebenhafte Nahansicht eines abgelegten Gegenstands kann sich in eine Landschaft mit Bergen verwandeln, weil die ins Bild geschriebenen Binnenformen sich verblüffend ähneln. Mit dieser filmischen Überblendung von einem Bild in ein anderes und mit dieser Feststellung wiederkehrender Grundformen in unterschiedlichen Bildgattungen liefert Kurator Alexander Eiling ein Beispiel für das Denken Cézannes.

Schon früh hat sich der Maler von den Impressionisten losgesagt

In den neun Kabinetten und Sälen der Ausstellung sind einige Zeichnungen und Skizzen zu sehen, in denen sich Cézanne mit Meisterwerken der Kunstgeschichte - speziell mit figürlichen Plastiken, die eine auffällige Drehbewegung vollziehen - auseinandergesetzt hat. Zwei dieser Bildwerke, die Cézanne selber besaß - ein rundlicher Gipsputto und ein Abguss des Écorché, einer qualvoll sich drehenden gehäuteten Männerfigur, die man damals für ein Werk Michelangelos hielt - stehen nun in der Ausstellung wieder zwischen den Zeichnungen, in denen Cézanne die dezidiert plastischen Ausprägungen dieser Figuren nachzuvollziehen versucht hat.

Offensichtlich ging es dem Maler nicht um eine suggestive Wiedergabe räumlich-plastischer Verhältnisse, nicht um die Illusion von Tiefe. Ihn interessierten an den sich drehenden Körpern offensichtlich nur gewisse Umrisslinien, die er mit Schraffuren fast manisch überdeutlich herauspräparierte. Er konzentrierte sich ganz auf die Spannungen, die sich zwischen den entdeckten körperlichen Kurven ergaben und versuchte diese tiefenräumlichen Wirkungen im zweidimensionalen Medium durch extreme Kurvierungen zu ersetzen. So zeigen die in Umrissen erfassten plastischen Figuren auf dem Papier oft recht eigentümliche Ausbauchungen. Einige Renaissance-Skulpturen sehen in den Nachzeichnungen von Cézanne anatomisch verzerrt aus.

Die Skizzen, die der Künstler von Skulpturen gemacht hat, zeigen besonders eindrucksvoll, wie Cézanne als Maler auf die dreidimensionale Welt reagiert, wie er im zweidimensionalen Medium die Gegenstände zurechtformt und auf der Fläche neu ordnet. Alles, was er für darstellenswert hält, unterwirft er bei der Wiedergabe seiner eigenen malerischen Ordnung, seinen eigenen formalen wie koloristischen Vorstellungen. So bestehen viele seiner Landschaften aus kleinen brauen, grünen und blauen Flächen, die wie Bausteine neben- und übereinandergesetzt sind.

Schon in seinen frühesten Arbeiten, den im Louvre gefertigten Studien nach klassischen Werken, hat sich Cézanne also radikal von der illusionistischen Spontanmalerei der Impressionisten losgesagt. Er will in seinen Bildern nicht den Augenblick einfangen, nein, er muss das Gesehene erst einmal kompositorisch verarbeiten, er muss den empfangenen Natureindruck zu einem Bild seiner Vorstellung verdichten und darum die abzubildenden Gegenstände neu ordnen. Dass er bei diesen frühen Wiedergabe-Experimenten die figürlichen Elemente dann manchmal fast gewaltsam zusammengestaucht hat, scheint ihn nicht gestört zu haben. Jedenfalls hat er mit diesen frühen Brutalismen die ersten entschiedenen Schritte in Richtung Abstraktion und Moderne getan.

Cézanne hat sich als Maler und Zeichner nicht nur an sperrigen Werken der Bildhauerei verbissen abgearbeitet, er hat sich auch mit anderen Kunstformen, die seinem auf Ausgleich bedachten Temperament heftig widersprachen oder ihn in seiner sexuellen Gehemmtheit herausforderten, trotzig auseinandergesetzt. Sein Gemälde "Pastorale (Idylle)" von 1870 ist offensichtlich als Überformung von Manets sieben Jahre zuvor gemaltem "Frühstück im Freien" gemeint, als Versuch, ein Skandalbild zu dekonstruieren und durch Hinzufügungen zu etwas Neuem zu machen. Bei ihm sind die drei nackten Frauenfiguren, die beiden bekleideten Männer, die Weinflasche und die Gläser so chaotisch über einen steilen Wiesenhang verteilt, dass sich keine erotische Intimität einstellen will. Die Frauen geben sich auch gar nicht entspannt dem Idyll unter freiem Himmel hin wie bei Manet, nein sie nehmen Haltungen ein, die sich Cézanne aus hochdramatischen Monumentalgemälden entlehnt hat: aus einem Triumphbild von Rubens und aus der grausigen Leichenvision "Der Tod des Sardanapal" von Delacroix. Bezieht man dann auch noch das Segelboot ein, das auf der Wasserfläche unten am Hang angelegt hat, dann weitet sich die Szenerie des Manet'schen "Frühstücks" zur Insellandschaft der Watteau'schen "Einschiffung nach Kythera".

Wie zufällig verteilt der Künstler Gegenstände und Früchte auf hindrapierte Tücher

Cézanne hat sich also, als er 1870 sein Pastorale mit nackten Frauen komponierte, von einer Reihe bekannter Gemälde Anregungen geholt. Doch was dabei entstanden ist, entfernt sich geradezu gewaltsam von den pastoral-idyllischen Naturvorstellungen und den erotisch grundierten Schönheitsidealen von Manet und Watteau. Geht man von diesen klug komponierten Vor-Bildern aus, dann könnte man das mit wenigen düsteren Farben geschilderte steife Nebeneinander rätselhafter Figuren sogar für misslungen halten, doch wenn man dieses kleine Bild an Werken der Moderne misst, dann kann man sich der Faszination, die von diesem schroff-kalten Human-Stillleben ausgeht, nicht entziehen. Wie in diesem Gemälde tendiert auch sonst vieles in der Kunst von Cézanne direkt in Richtung Stillleben. Selbst die Versuche, mit den erzählerisch-dramatischen Wirkungsmitteln der Historienmalerei zu arbeiten, haben am Ende etwas hervorgebracht, was dem Stillleben, wie wir es heute verstehen, sehr viel näher ist als all den im 19. Jahrhundert so hoch geschätzten erzählenden Bildgattungen. Für Cézanne waren die Zufälligkeiten, die er in der eigenen Umgebung fand, etwa die wenig spektakulären Landschaften oder die Alltagsgegenstände in der Wohnung, als existenzielle Gegenüber unendlich viel wichtiger als die Dramen der Menschheitsgeschichte, mit denen Malerkollegen Aufsehen erregen wollten. Er negierte die akademischen Wertvorstellungen seiner Zeit deutlich konsequenter als die Impressionisten und konnte mit seinem frischen Blick, der die vorhandenen Dinge neu ordnete, der seit dem 18. Jahrhundert totgesagten Gattung Stillleben zu einer neuen Überzeugungskraft verhelfen. Ja die machtvolle Präsenz der einfachen Dinge in seinen Bildern hat auf die Avantgardisten der nächsten Generationen, auf die Pioniere der Moderne, etwa auf die Kubisten, wie eine Aufforderung zum Weiterexperimentieren gewirkt.

Wenn Cézanne in seinen Stillleben Früchte und Haushaltsgegenstände wie zufällig auf hindrapierte Tücher verteilt, dann entstehen Formkonglomerationen, die man auch als Landschaften empfinden kann. Wenn aber die zusammengeholten Objekte einprägsam auf verschiedenen Ebenen übereinanderkomponiert sind, dann kann man, wie die Autoren des Katalogs, in den rhythmisierten Ensembles sogar "stillgelegte Historienbilder" sehen. Ja und wenn Cézanne etwa so Gewöhnliches malt wie ein Küchenhandtuch, das locker über einer Holzstange hängt, dann verleiht er dem Gegenstand eine Würde, wie sie sonst nur menschlichen Figuren zusteht.

Damit sind wir bei einer weiteren These der Ausstellung: In Cézannes Malerei gewinnen die abgebildeten Gegenstände eine fast kreatürliche Lebendigkeit; die abgebildeten Personen aber verlieren ihre fleischliche Sinnlichkeit und ihre individuelle Eigenart, sie bekommen etwas Maskenhaftes, sie werden zu Monumenten ihrer selbst. Die Selbstporträts sprechen eine deutliche Sprache: Der Schöpfer dieser Bilder will nicht sein Inneres entblößen, er kämpft als Maler mit seiner physischen Erscheinung. Doch da er bei jedem Annäherungsversuch anders gestimmt ist, die Mimik sich leicht verändert, sehen die Ergebnisse auffällig unterschiedlich aus. Zusammen aber summieren sie sich zu einem differenzierten Charakterbild, wie es sonst keiner seiner Zeitgenossen versucht hat.

Wie sicher sich Cézanne zwischen seinen Lieblingsgattungen Stillleben, Landschaft und Porträt hin- und herbewegt hat, lässt das Blatt erahnen, auf dem er das winzig mit Bleistift gezeichnete Gesicht seiner Lebenspartnerin Hortense mit der Darstellung einer Hortensienblüte vereinigt hat. Die verbale Anspielung zwischen den beiden Motiven stellt spielerisch eine Verbindung her zwischen zwei Gattungen, wie sie Cézanne als Maler so oft hergestellt hat.

Cézanne, Metamorphosen , bis 11. Februar, in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, www.cezanne-in-karlsruhe.de

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SZ vom 04.12.2017
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