Kunst:Das Ende aller Illusion

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In Bassano del Grappa werden im Stadtmuseum von 60 Gemälden nur ihre Rückseiten gezeigt. Einen stärkeren Verweis auf das Fiktive eines jeden Bildes gibt es nicht.

Von Thomas Steinfeld

Wo die Brenta aus den Südlichen Kalkalpen tritt, im äußersten Norden der großen Ebene, liegt Bassano del Grappa. Fast wäre man versucht, die kleine, in ihrem Kern mittelalterliche Stadt zu einer der schönsten "città storiche" Italiens zu erklären, wüsste man nicht, dass man dann ins Aufzählen geriete und die Liste bald kein Ende mehr nähme. Es ist hier also ähnlich wie in vielen anderen schönen Städten des Landes, mit etlichen Palazzi und Piazze, mit einer gotischen Kirche und einem hohen Wehrturm, und selbstverständlich gibt es auch die Bildmotive, die die Gemeinde ikonisch zusammenschließen: vor allem die von Andrea Palladio entworfene gedeckte Brücke über die Brenta, an deren Ufer hier eine bunte Reihe Patrizierhäuser steht. Schön ist diese Szene, wie sie in Millionen Fotografien festgehalten ist, wie überhaupt wohl für die Mehrheit aller je entstandenen Bilder gilt, dass sie in irgendeiner Weise etwas Schönes sistieren sollen, und wenn nichts Schönes, so doch zumindest Bedeutsames.

Zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt zählt auch das "Museo Civico". Das Stadtmuseum ist in einem ehemaligen Konvent mit einem herrlichen Kreuzgang untergebracht. Gewöhnlich sind in den Sälen dieses Hauses, neben vielen anderen, Gemälde von Jacopo Da Ponte ("Jacopo Bassano"), von Tiepolo, Canova oder Hayez zu betrachten. Gemessen an den Möglichkeiten eines Museums in der italienischen Provinz, bilden diese Gemälde eine ausgezeichnete Sammlung.

Einem zunächst bizarr und zugleich schlicht wirkenden Einfall folgend, sind indessen 60 Werke aus dieser Sammlung nicht zu sehen. Oder genauer: Sie sind zu sehen, bieten aber dem Blick nur ihre Rückseiten dar. Das eigentliche Bild ist der Wand zugewendet. "Abscondita" heißt diese Ausstellung, und das Wort kann als "Verborgenes" oder "Verdecktes", auch "Geheimes" übersetzt werden, wobei man sich die Pluralform mitdenken muss. Kennte man die Sammlung gut, wäre die Schau eine Gelegenheit, eine Art "Memory" zu spielen und also zu prüfen, ob man Werke, buchstäblich gesprochen, auch an ihren Rahmenbedingungen erkennt. Und erst allmählich, in der Betrachtung des einen Bildrückens nach dem anderen, geht dem Besucher auf, dass es bei dieser Ausstellung noch etwas ganz anderes zu bedenken gibt als nur ein kindliches Spiel mit der Verhüllung.

Nichts sieht an einem Gemälde so gemacht aus wie die Spuren des Handwerks auf der Rückseite

Im Sommer 2015 war im Frankfurter Städel eine Kabinettausstellung mit dem Titel "Vice Versa. Kehrseiten der Malerei" zu sehen. Darin ging es hauptsächlich um die Erkenntnisse zur Kunstgeschichte, die der Rückseite der Bilder abzugewinnen sind - bezogen selbstverständlich auf das Gemälde auf der Vorderseite. In Wiener Belvedere war im vergangenen Frühjahr eine Ausstellung mit Werken des New Yorker Künstlers Vik Muniz zu sehen, der die Rückseiten berühmter Gemälde - Leonardos "Mona Lisa", Vincent van Goghs "Sternennacht", Gustav Klimts "Kuss" - nachgebaut hatte und so die Frage nach dem Verhältnis von Original und Kopie neu zu stellen meinte.

Die Ausstellung in Bassano geht weiter: Sie wird bildkritisch. Denn was auf einem Bild zu sehen ist, mag noch so sehr der Wirklichkeit gleichen, und es mag noch so sehr an die Stelle der Wirklichkeit gesetzt worden sein, ganz gleich, ob es sich dabei um Madonnenbilder, Herrscherporträts oder Landschaften handelte. Aber es entspricht nicht der Wirklichkeit. Es ist etwas Gemachtes, etwas Künstliches und Erfundenes. Und ist es nicht so, dass man sich, selbst wenn man ein wenig in Bildtheorie geschult ist, immer wieder in Erinnerung rufen muss, dass Bild und Welt nicht identisch sind, aller Evidenz zum Trotz - und besonders in Lebensverhältnissen, in denen alles und jedes bebildert oder selbst zum Bild geworden ist? Nichts aber sieht an einem Gemälde so gemacht aus wie die Spuren des Handwerks auf seiner Rückseite.

In der Geschichte der Kunst gibt es einen Zeitpunkt, zu dem das Bewusstsein, es bei Bildern mit etwas Gemachtem zu tun zu haben, erstmals selbst zum Bild wird: Es geschieht um das Jahr 1600. Das Genre, das in und mit dieser Reflexion entsteht, ist das Stillleben. Wenn sich auf einem Bild Erbsenschoten, Feigen und Fische zu einem Arrangement vereinen, oder Totenköpfe, Sanduhren und Schneckengehäuse, dann mag jeder dieser Gegenstände eine allegorische Bedeutung haben, ebenso wie das Ensemble selbst. Dem Betrachter aber erscheinen die Dinge zunächst als surreale Zusammenstellung, wobei das Bild selbst die Bedingung dieser Kombination ist: Nur im Bild, unter den Bedingungen des Künstlichen und Gemachten, kommen diese Gegenstände zueinander. Jedes Stillleben ist auch ein Verweis auf die Fiktion, die ihm zugrunde liegt. Entfaltet wurde diese Kunst des selbstreflexiven Bildes zuerst in der italienischen und vor allem der niederländischen Malerei des frühen 17. Jahrhunderts. Ihren Höhepunkt erfuhr sie in den Bildern des flämischen Künstlers Cornelius Gijsbrechts. Im Jahr 1670, kurze Zeit bevor sich seine Spur irgendwo im Nordosten Europas verlor, malte dieser Virtuose der Täuschung die "Rückseite eines Gemäldes" und damit das erste und einzige historische Gemälde, das zwei Rückseiten hat. Es ist auch das erste Werk, das in der Ausstellung im Museo Civico von Bassano zu sehen ist, als Kopie und in zweifacher Vergrößerung.

Einen stärkeren Verweis auf das Fiktive eines jeden Bildes aber, als dessen Material auszustellen, gibt es nicht: Wenn Farbe, Leinwand und Rahmen vorgezeigt werden, ist alle Illusion am Ende. Genau das geschieht in Bassano, erbarmungslos, in langen Reihen. Je aufmerksamer man die Rückseiten der Gemälde jedoch betrachtet, eine nach der anderen, desto mehr entfalten sie ästhetische Qualitäten. Das Holz und die Nägel, der Stoff und die Inventarnummern, die Zettel der Transportfirmen und - selbstverständlich - etliche Entwürfe und Skizzen der Künstler bilden in sich Stillleben, von denen viele, so zufällig sie auch entstanden sein mögen, selbständige ästhetische Qualitäten entfalten und also selbst zu Illusionen werden.

Bilder, in denen die Kunst darüber nachdenkt, woraus sie besteht, gab es schon im Barock

Und irgendwann, bei der dreißigsten oder fünfzigsten Rückseite, ist es, als wäre nicht nur die "Arte Povera" immer schon da gewesen, mit ihren Bildwerken aus "armen" Materialien, sondern auch, als hätte Lucio Fontana, der Künstler, der in den späten Fünfzigern und dann in den Sechzigern Leinwände mit dem Messer zerschnitt, um mit dem Bildträger eine wesentliche Voraussetzung der malerischen Illusion zu zerstören, seinen Zweck ebenso gut mit einfacheren - und vor allem: tief in der Tradition der Malerei wurzelnden - Mitteln erreichen können.

Gemälde, in denen die Kunst über sich selbst nachdenkt, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass ihre ganze Pracht nur aus ein paar bunten Flecken besteht, die von Trümmern aus der Werkstatt eines schlechten Schreiners zusammengehalten werden - solche Bilder stellen Variationen auf ein Motiv dar, das im 17. Jahrhundert weit verbreitet ist, allerdings weniger im italienischen als im nördlichen Barock: die Lehre von der Eitelkeit alles Irdischen. Das Prinzip der "vanitas" ist indes dialektischer angelegt, als man heute glauben möchte: Denn was ist mit dem Betrachter, der diesen Tand vor sich ausgebreitet sieht und sein Gefallen daran findet? Angesichts dieses Widerspruchs entfaltete die Philosophie des Barock die Idee, die Welt in Paradoxe aufzulösen - dergestalt, dass einer, "sobald er das Nichts gefunden zu haben glaubt", tatsächlich auch "Etwas findet" (Martin Schoock).

Das Eigentümliche an der Ausstellung in Bassano ist nun, dass sie dieses Finden von Nichts als Etwas nicht nur darstellt, in Form einer kunsthistorischen Darbietung, sondern tatsächlich praktiziert: ganz so, als wäre sie selbst vom negativen Geist des Barock ergriffen worden. Fast wäre man versucht, darin ein Zeichen der Zeit zu erkennen.

Abscondita. Segreti svelati delle opere d'arte, Museo Civico, Bassano del Grappa. Bis 3. September. Der Katalog ist nur auf Italienisch erhältlich und kostet fünf Euro.

© SZ vom 18.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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