Das Jahr 2006 war der Durchbruch der Heimat in Deutschland. Galt das Schwenken von Schwarz-Rot-Gold bis dahin noch als sicherer Ausweis der Ewiggestrigen oder als peinliche Triumphgeste von Wendegewinnern, so veränderte das "Sommermärchen" diese Bewertung grundlegend. Der rührende Anblick von betrunken durch die Straßen wankenden Jugendlichen, die mit den drei Farben auf der Backe "Schland" und "Lukas Podolski" grölten, wurde sofort als untrügliches Zeichen dafür gewertet, dass Deutschland nun eine Nation wie alle anderen sei. Das Land schien endlich lachend aus dem langen Schatten des Dritten Reichs zu treten, befreit von allem verdrucksten Verhalten, wenn es um den kollektiven Stolz und seine Symbole ging.
Wofür braucht es dann also eine große Ausstellung zur deutschen Heimat 15 Jahre später, die Hunderte Fragen stellt? Und in der das "Sommermärchen" gar nicht vorkommt. Bestätigte die Fußball-WM im "eigenen Land" den Deutschen vielleicht doch nicht das neue Zuhause freundlicher Weltoffenheit, so wie es schon die "heiteren Spiele" von München 1972 hätten tun sollten, die dann vom Terror überschattet wurden? War das Ankommen im Gemeinschaftlichen, in einer befriedeten Nation, wo alle dazugehören, nur ein sehnsuchtsvolles Trugbild übereifriger Kommentatoren?
Eine Fata Morgana war definitiv die Vorstellung von der einen Heimat, die für alle gilt. "Heimaten" heißt deshalb auch die von Amelie Klein kuratierte Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Der Plural ist wichtig. Denn auf den kurzen Moment der Euphorie, als Klinsi die "Mannschaft" fast zum Titel führte, folgte der Alltag der Selbstverortung. Und der ist wesentlich komplizierter, als es der suggestive Taumel eines Massenevents erscheinen lässt. Die Migration wie der rechte Populismus veränderten das Wir-Gefühl genauso wie das Leben in globalen Datennetzen. Und das neu erwachte Bewusstsein für die fatale Parallele von steigenden Wirtschafts- und Emissionsdaten relativierte ebenfalls das Gefühl nationaler Souveränität. Die Welt ist in ihrem Schicksal zusammengeschweißt. Heimatschutz ist nicht mehr national zu leisten.
Reetdach und Gamsbart als Frage des Designs
Das schwierige Wort "Heimat" kann also nicht mehr als Synonym von "Vaterland" zum Kollektivschwur einer gemeinsamen Identität werden. Heute ist es ein ausgesprochen brüchiger, diffuser und wenig Stabilität versprechender Begriff. Und darum geht es in dieser Ausstellung. So fragt der Künstler James Bridle mit seinem Projekt "Citizen Ex", welche Art von Bürgerin oder Bürger der Mensch im Internet ist, wenn er viele Stunden auf Seiten verbringt, deren Urheber in den USA sitzen - und visualisiert diese virtuellen Staatsbürgerschaften mit Grafiken einer wenig vielfältigen Digital-Bevölkerung.
Ein anderes Beispiel: Fotos von 1912 aus den Vierlanden bei Hamburg zeigen, wie Trachten, lokale Bauweisen und bäuerliche Berufe der Vorstellung von Heimat einst ein gültiges soziales Fundament gaben, das man heute selbst dort vergeblich sucht, wo die Inszenierung von "Heimat" zu touristischen Zwecken stattfindet. Entleert um ihre gewachsene Bedeutung sind Reetdachhäuser wie Gamsbart und Lederhosen nur noch Nostalgie-Design.
Überhaupt geht diese Ausstellung mit den Designerinnen und Designern hart ins Gericht. "Die Instrumentalisierung von Heimat für kommerzielle und politische Zwecke ist ein so altes Erfolgsrezept, dass wir oft gar nicht auf die Idee kommen, ein 'typisch deutsches' Objekt könnte bewusst als solches gestaltet sein", erklärt die Kuratorin zur Begrüßung. Mit dieser skeptischen Grundhaltung zeigen dann Amelie Klein und ihr Team an vielen Beispielen vom Schwarzbrot über den Bundesadler bis zum Sandmännchen und der Schrankwand, wie das Zusammenspiel von Empfindungen und Identifikationsangeboten, das zu Heimatgefühlen führen kann, gesteuert wird.
Eine lustige Filmcollage von Christoph Girardet etwa kombiniert auf drei Leinwänden identische Einstellungen aus Heimatfilmen der Nachkriegszeit, die mit diesen Naturvorstellungen einen Kanon prägten, was ideale Heimat und Freiheit in ihr bedeutet. Eine Plakatwand zum Wald, die über hundert Jahre das romantische Motiv des deutschen Naturheiligtums von der Bier- bis zur Parteiwerbung versammelt, zeugt mal todernst und mal sarkastisch von der ungebrochenen Kraft der inszenierten Natur als nationalem Klebstoff. Aber auch das St.-Pauli-Stadion und die dortige Kultur der Identifikation mit einem Verein und seiner Spielstätte funktioniert als Heimaterzeugung.
Von der Sehnsucht zum Machtkampf
Die anregende Schau verfällt erfreulich wenig in ideologische Muster, sondern verfolgt in sieben Kapiteln viele Spuren von Heimatgefühl sowie dessen Anfälligkeit für Abgrenzungen. Ausdrücklich werden dabei auch alle Gruppen einbezogen, die in den vergangenen Jahren unter dem Schlagwort "Identität" ihre eigene Form von Heimat und Gruppenzugehörigkeit thematisiert haben. Queere und postmigrantische Gemeinschaften oder Ankömmlinge mit einem Diasporagefühl von mitgebrachter Heimat werden hier sehr einladend behandelt. Aber natürlich besitzen auch diese Szenen, Kieze und Kulturen stark scheidende Kräfte in "wir" und "ihr". Abgrenzung ist die Voraussetzung aller Heimaterzeugung. Solange das ohne aggressive Konkurrenz funktioniert, sorgt es für eine vielfältige Gesellschaft. Wenn es unter dem Vorzeichen der Auf- und Abwertung geschieht, wird es zum Machtkampf und zeugt schwere Konflikte.
In der mit Exponaten reich bestückten Schau sind deshalb die Beispiele für Dialogfähigkeit von besonderer Bedeutung. Etwa die Dirndl à l'Africaine vom Münchner Label Noh Nee. Die Designerinnen Marie Darouiche und Rahmée Wetterich erfinden eine bayerische Folklore mit afrikanischen Stoffen neu und verweisen damit auf die lange Geschichte kultureller Aneignung als Urgrund aller Kultur. Denn auch die heute als afrikanisch wahrgenommenen bunten Musterstoffe stammen ursprünglich nicht von diesem Kontinent, sondern wurden von arabischen und niederländischen Kolonialwarenhändlern aus Indonesien dorthin gebracht und dann als eigene afrikanische Kultur angenommen.
Auch der Rap-Battle "Aber" von Eko Fresh, Samy Deluxe und Can Özev, in dem in bester Habermas'scher Manier ein "Deutscher" und ein "Deutschtürke" im langen Streitgespräch ihre gegenseitigen Vorurteile schleifen, ist solch ein Moment der Überbrückungshilfe. Aber nicht nur die Vorteile von Kommunikation statt Konfrontation im Bereich der Selbst- und Fremdwahrnehmung werden in dieser Ausstellung intelligent illustriert. Manchmal braucht es einfach auch ein bisschen Gewalt, um sich von Gespenstern der Heimat zu befreien - aber bitte nur gegen Sachen. In dem Kunstvideo "Die Zuckerdose" von Susanne Kutter wird die psychische Enge, die Menschen im Mobiliar der Vergangenheit quälen kann, kinetisch sichtbar. Eine hydraulische Presse zerdrückt ein gutbürgerliches Wohnzimmer zu Klängen aus dem "Rosenkavalier".
Von dieser Zelle bis zum Planet als Heimat des vielfältigen Lebens lässt sich der kontroverse Begriff also dehnen und deswegen wirklich auch nur in der Mehrzahl verstehen. Gemeinsam ist allen unterschiedlichen Varianten, dass "Heimat" eigentlich immer etwas bedeutet, das es zu schützen gilt, weil es einen großen persönlichen und emotionalen Wert hat. Der Mensch gibt seine Heimat nicht leicht auf, ob sie nun aus einem Klang, einer Landschaft oder einer Szene besteht. Das ist das Konservative an diesem Gefühl. Den Wunsch, zu bewahren, was sich gut anfühlt. Und nur daraus lässt sich ein gesunder Fortschrittswille ableiten, der die Welt in Balance hält. "Schland" hat da sicherlich noch einiges von dieser Ausstellung zu lernen.
Heimaten. Eine Ausstellung und Umfrage. Museum für Kunst und Gewerbe , Hamburg, bis 9. Januar 2022.