Kunst:Arbeit an der Krise

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Der Kurator Nicolas Bourriaud über sein Konzept des "Siebten Kontinents" für die Istanbul- Biennale. Zensur? Hat er in der Türkei noch nicht erlebt.

Interview von Till Briegleb

Die 16. Istanbul-Biennale startet unter schwierigen politischen Bedingungen und in Zeiten wachsender ökologischer Bedrohung. Der französische Kurator Nicolas Bourriaud hat der am kommenden Wochenende eröffnenden Ausstellung den Titel "The Seventh Continent" gegeben, also die Metapher für die gigantischen Strudel aus Plastikmüll in den Ozeanen gewählt. Er sieht seine Biennale im Kontext globaler Zerstörung und autokratischer Regime.

Sie verbinden in Ihrer Ankündigung der Istanbul-Biennale den dystopischen Begriff des "Siebten Kontinents" mit einer Idee kultureller Vielfalt. Das hört sich merkwürdig an. Welcher Zusammenhang besteht für Sie zwischen der weltweiten Umweltzerstörung und der positiven Idee von Vielfalt?

Nicolas Bourriaud: Der siebte Kontinent ist für mich das Unterbewusste der Menschheit, der negative Kontinent zwischen Europa und den Gebieten seiner Eroberungen. Ein Land, das sich allein aus den Aktivitäten der Menschheit ergeben hat, als schlechtes Gewissen der westlichen Welt. Die Ausstellung wird dieses neue Territorium erforschen. Die Künstler untersuchen einen Kontinent, der wirklich existiert, aber auf dem niemand wohnen will. Wir bereisen das Gegenstück zur Neuen Welt.

Sind alle Künstler angehalten, eine Interpretation der These vom Kontinent des schlechten Gewissens zu liefern?

Ich bin kein Diktator. Ich würde niemals Künstlern Vorschriften machen. Ich verstehe eine Ausstellung wie diese eher als Oper. Ich schreibe das Libretto, aber die Künstler singen die Arien - und ich habe sie ja deswegen ausgesucht, weil ihr Werk mit dem Libretto korrespondiert.

Eine weiterer Anspruch Ihres Konzept s lautet, dass die Künstler hinter die westliche Vision von Fortschritt blicken sollen. Was befindet sich dahinter?

Alle kapitalistischen Länder sind besessen von der Idee eines quantitativen Wachstums. Es geht nur um Zahlen, um nichts sonst. Aber auch der Mensch hört mit rund 18 Jahren körperlich auf zu wachsen. Danach wachsen wir in Bezug auf Qualität, durch unsere Erfahrungen, oder indem wir Dinge erschaffen. Auch Fortschritt wird allein technologisch definiert. Aber wir erleben gerade nicht den geringsten Fortschritt: Der Amazonas brennt. Wir haben überall rechte Regierungen. Ein Begriff wie "Fortschritt" ist also extrem fragwürdig geworden. Deswegen müssen wir wieder lernen, die Wörter "Fortschritt" und "Wachstum" im Zusammenhang qualitativer Veränderung zu benutzen.

Diese fatale Vorstellung von endlosem Wachstum wurde aus wirtschaftlichen Ideologien übernommen. Wird die Ökonomie als Verursacher der globalen Zerstörung ebenfalls thematisiert?

Absolut. Es gibt mehrere Künstler, die sich mit ökonomischen Aspekten von Wachstum befassen. Aber sie tun das nicht journalistisch oder wie Aktivisten. Zum Beispiel entwickelt Agnieszka Kurant eine Arbeit aus chemisch manipulierten Materialien der amerikanischen Fordwerke, um das Verhältnis zwischen Natur und Ökonomie zu erfassen.

Sie ziehen in Ihren Thesen zum siebten Kontinent immer wieder Linien zu Spiritualität, zu Schamanismus. Wie bildet sich das in der Ausstellung ab?

Künstler, die sich mit Spiritualität beschäftigen, versuchen eine Rückverbindung herzustellen zu vergessenen Wegen des Denkens. Sie verbinden verschiedene Wirklichkeiten, und das erzeugt natürlich andere Konzeptionen von Kunst. Diese Verbindungen in die Vergangenheit haben nicht den Zweck, sich in Historischem zu verlieren, sondern die Seele neu zu starten. Unsere Gehirne neu zu figurieren.

Sie haben sich bereits 2014 bei der Biennale in Taipeh mit dem Thema des Anthropozäns beschäftigt, also dem Zeitalter der menschgemachten geologischen und klimatischen Veränderungen. Wie unterscheiden sich die beiden Biennalen?

Die Taipeh-Biennale war die erste Ausstellung, die ich über das Anthropozän gemacht habe, die zweite überhaupt zu dem Thema nach der großen Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Die Istanbul-Biennale ist für mich noch näher an der Problematik dran, weil wir uns konkret mit dem beschäftigen, was ich als die wahrhaftigste Metapher des Anthropozäns bezeichnen möchte, dem siebten Kontinent, einem Land, das nur aus Abfall besteht.

Auch Biennalen verbrauchen Ressourcen, nicht nur wegen der Flugmeilen. Reflektieren Sie Ihre Produktion auch selbstkritisch? Praktizieren Sie, was Sie predigen?

Es ist immer einfach, Kunstinstitutionen für das zu kritisieren, was man eigentlich der gesamten Gesellschaft vorwerfen müsste. Das ist aber im Kern symbolisch. Der relevante Kohlendioxidausstoß wird nicht von der Kunst produziert. Deswegen fühle ich mich nicht so schuldig. Aber es gibt eine deutliche Veränderung in dem Bewusstsein der Künstler. Sie stellen selbst Forderungen nach einem ökologischen Selbstverständnis der Institution.

Grundsätzlich stellt sich aber auch für Kultureinrichtungen die Frage, ob sie den internationalen Austausch auf Kosten von Klimasünden weiter fördern sollen?

Ich verstehe, dass die Kunstwelt mit solchen Fragen exemplarisch konfrontiert wird, weil sie Vorbilder bereitstellen will. Und es ist offensichtlich, dass wir alle darüber nachdenken müssen, wie es weitergeht mit dem ganzen Biennalen-System. Darauf habe ich aber jetzt keine Antwort parat. Unser erster Schritt ist es hier, dass Künstler lange in der Stadt bleiben, anstatt das sonst übliche wiederholte Hin- und Herfliegen zu unterstützen. Deswegen produzieren die meisten Künstler der Biennale hier ihre Werke und bleiben dafür zwei Wochen.

Natürlich müssen wir uns auch um die Umweltschutzaspekte rund um die Biennale kümmern. Und die Frage stellen, wie Kunstwerke eigentlich produziert werden? Das ist eine langsame Entwicklung. Künstler helfen, die Wahrnehmung der Welt langfristig zu ändern. Das ist nicht so sehr kurzfristige Politik.

Sie haben sich für die Biennale in Istanbul beworben, obwohl die politische Situation in diesem Land von massiven Freiheitseinschränkungen, insbesondere was die Meinungsfreiheit betrifft, geprägt ist. Warum wollten Sie sich und Ihre Künstler mit dieser repressiven Atmosphäre konfrontieren?

Die Konfrontation mit einem Regime ist kein Plan, den ich verfolge. Aber ich arbeite auf einem Gebiet, das sich in einer Form von Krise befindet. So habe ich die Biennale von Athen 2011 kuratiert, als das Land auf dem Höhepunkt der ökonomischen Krise war. Ich habe in China gearbeitet oder in den USA unter Donald Trump. Entscheidend ist, dass es keine Zensur gibt. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, sehe ich keinen Grund, es nicht zu tun. Boykott hilft nicht weiter.

Nun gibt es durchaus Zensur in der Türkei. Ist die Kunst davon nicht betroffen?

Bisher gab es keinen Versuch in diese Richtung. Nicht in meinen Texten, nicht für meine Konzeption oder bei irgendeinem der Kunstwerke, die entstehen. Und nach dem Sieg von Ekrem İmamoğlu bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul empfinden hier viele die Atmosphäre in deutlichem Wandel, nicht nur die Künstler.

Warum reagiert die Regierung von Recep Erdoğan so tolerant auf die Kunst? Oder ist das nur eine Phase wie in China, wo nach einer langen Zeit der Freiheit gerade der Rollback kommt und ganze Künstlerviertel abgerissen werden?

China ist ein anderes Land als die Türkei. Man kann das nicht vergleichen. Und ich bin grundsätzlich sehr vorsichtig damit, in einem Land, wo ich nur für eine kurze Zeit Gast bin, politische Urteile zu fällen. Ich sehe hier, dass alle Künstler, die ich treffe, frei produzieren können. Es erlebt niemand eine Zensur seiner Arbeit.

Glauben Sie, dass kulturelle Ereignisse wie eine Biennale spürbaren produktiven Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Klima haben können?

Alles was eine Debatte, was kritische Dialoge herstellt zwischen Leuten mit sehr unterschiedlichen Ansichten oder wichtige Themen behandelt, die nicht in den Zeitungen auftauchen, geht für mich in eine positive Richtung. Das fördert die öffentliche Diskussion und verändert die Mentalität einer Gesellschaft.

Und das ist auch der Fall bei einer relativ überschaubaren Szene wie die der Ausstellungsbesucher, die vielleicht eh die richtige kritische Einstellung mitbringen?

Ja, unbedingt. Produzenten von Massenevents glauben, die Menge der Zuschauer sei das Entscheidende. Das ist auch der Grund, warum Formate wie Ausstellungen nicht so geschätzt werden, wie sie sollten, weil so viele Menschen nur an Zahlen glauben. Ich glaube an die persönliche Begegnung mit Kunstwerken. Erst das führt zu einer tiefen, nachhaltigen Auseinandersetzung. Die Menge macht nicht den Wandel.

© SZ vom 10.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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