Süddeutsche Zeitung

Kulturpolitik:Viel zu bunt?

Es ist ein internationales Metier, Migranten haben den Tanz groß gemacht: Ein blamabler Vorstoß der AfD zum Stuttgarter Festival "Colours".

Von DORION WEICKMANN

Bis vor Kurzem wirkte die Stuttgarter Tanzlandschaft recht beschaulich. Unten im Talkessel rief das Stuttgarter Ballett zur letzten Premiere der Saison. Droben am Pragsattel feilte Eric Gauthier an der Eröffnung seines "Colours International Dance Festival". Kurz vor dem Start schlug dann die Hitze zu, anschließend die Landtagsfraktion der AfD. Die Parlamentarier Rainer Balzer und Klaus Dürr stellten eine kleine Anfrage zum Thema "Staatsangehörigkeit und Ausbildungsorte der Künstler in Baden-Württemberg". Geklärt sehen will das Duo zum Beispiel die Frage: "Welche Ballett-Companien mit wie vielen Tänzern" gibt es im Land? Das könnten die Herren mit einem einzigen Blick in die Spielzeitprogramme ganz locker selbst herausfinden. Gleiches gilt für Frage Nummer zwei nach den Nationalitäten und Bildungsgängen der in Staatstheater-Diensten stehenden Tänzerinnen und Tänzer. Die Theaterprospekte machen kaum ein Geheimnis daraus.

Was also soll der Vorstoß? Um das zu verstehen, besichtigt man am besten den "Colours"-Auftakt im Theaterhaus und geht auf Stippvisite zum Staatsballett: Stuttgarts Aushängeschild, das in den 1960ern von einem Südafrikaner namens John Cranko entworfen und von Stars wie Marcia Haydée (Brasilien), Egon Madsen (Dänemark) oder Richard Cragun (USA) an die Weltspitze befördert wurde. Wo es sich nicht zuletzt dank kosmopolitischer Gesinnung und Zusammensetzung bis heute behauptet.

Tanz ist ein internationales Metier, Migration und Migranten haben es groß gemacht

Ähnlich verhält es sich mit Eric Gauthiers Company, die ans Theaterhaus gekoppelt ist. Der Kanadier hat das Kollektiv vor elf Jahren gegründet. Von seinen 16 Tänzern erwartet er schlicht "Persönlichkeit", wie sich das halt für Künstler gehört. Ob sie in Europa, Amerika oder sonst wo geboren sind - komplett uninteressant. Warum, das zeigen die als "Colours"-Opener gereichten fünfteiligen "Classy Classics". Da steht ein junges, kess auftrumpfendes Ensemble, das von Artistik (à la William Forsythe) über Dadaistik (vom Hausherrn choreografiert) bis zur körperkurvigen Gagaistik eines Ohad Naharin alles beherrscht. Die Konkurrenz arrivierter Kompanien muss es längst nicht mehr fürchten, und so hat Gauthier die dritte "Colours"-Ausgabe mit Gästen aus fünf Kontinenten bestückt - Tanzelite, so weit das Auge reicht.

Den Anfang macht Gauthiers Landsfrau Marie Chouinard, deren "Radical Vitality. Solos and Duets" sich als Werkschau im Short-Cuts-Format entpuppt. Zwei Dutzend Miniaturen stehen stellvertretend für Stücke aus vierzig Jahren - eine schräger, virtuoser, merkwürdiger und maliziöser als die andere. Chouinard scheucht neun reanimationsbereite Darsteller über die Schlachtfelder des Geschlechterkriegs. Sie erwecken die Tanzmoden und -manierismen der jüngsten Vergangenheit zu neuem, frischfrechem Leben: eine Gespensterschar, an der sich auch die zeitweise vom Ventilatorwind ins Sichtfeld gepusteten Bühnentechniker delektieren.

Da ist zum Beispiel "Love Attack #2" von 2010, ein zweiminütiger Knutschangriff auf einen zur Salzsäule erstarrten Adonis, den eine Nymphe unter orgiastischen Wohllauten bearbeitet. Bis hinunter zu den Füßen, den Fetischobjekten schlechthin. Ebenso abgefahren wirkt "Wild Goose Duet" von 1991, an dem jeder Disney-Zeichner seine Freude hätte. Die Uraufführung von "Earthquake in the Heartchakra" bestritt Maria Chouinard 1985 noch höchstpersönlich, als Hokuspokus zwischen "Sterbendem Schwan", Commedia dell'Arte und Mary Wigmans "Hexentanz". Jetzt torkelt, flattert und flucht die fantastische Valeria Galluccio auf Chouinards Spuren dem Fegefeuer entgegen.

Sensation machen die "Opera Dogma"-Etüden für Gesicht und vier Hände, die eine Kamera aufzeichnet und auf die Theaterhaus-Rückwand projiziert. Horror pur, wenn sich Motrya Kozbur mit den eigenen Fingern die Visage poliert, Fratzen und Zombiegrimassen aus Wangen, Lippen, Lidern modelliert, um zuletzt zum Gioconda-Lächeln aufzurüsten. Eros pur, wenn sie im Doppel mit Galluccio vaginale Selbstermächtigung feiert: ein feministisches Manifest von berückender und bedrückender Schönheit.

Diese Dualität wird "Colours"-Besuchern in den kommenden zwei Wochen häufig begegnen. Etwa in Mourad Merzoukis "Folia", das Barocktanz und Hip-Hop ineinanderschiebt. Oder bei Kyle Abraham aus New York, der die Fassaden der Metrosex-Lässigkeit punktiert, ohne sie einzureißen. Das chinesische Gegenstück dazu liefert Xie Xin aus Shanghai, einst Tänzerin bei Sidi Larbi Cherkaoui und heute eine der spannendsten Aufsteigerinnen auf dem globalen Tanzmarkt. Wo sich der britisch-bengalische Tanzmacher Akram Khan, der das Festival mit einer Uraufführung beschließt, längst als ästhetischer Trendsetter etabliert hat.

Khan, seine Kollegen und sämtliche Kompanien, die im Theaterhaus antreten, haben eines gemeinsam: Sie sind multinational und multikulturell aufgestellt und entsprechend vielseitig ausgebildet. Also gerade so wie die Tanztruppen (und Orchester und Opernstudios), deren Mitgliederherkünften das Auskunftsbegehren der AfD gilt. Der Antrag ist rechtens, sein Wortlaut gleichwohl ein Ausweis kompletter Ignoranz und Inkompetenz, was das Feld betrifft: Tanz ist ein internationales Metier, Migration und Migranten haben es groß gemacht, und das seit dem 19. Jahrhundert. Wer das nicht wahrhaben und lieber germanische Tanzprovinz werden will, spielt - eingedenk der olympischen Verstrickung des Ausdruckstanzes anno 1936 - mutwillig mit dem Feuer.

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Quelle:
SZ vom 01.07.2019
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