Süddeutsche Zeitung

Kulturpolitik in Polen:Der polnische Standpunkt

In Warschau ist das Ujazdowski-Zentrum für zeitgenössische Kunst eine Insel der Offenheit. Wie lange noch?

Von Florian Hassel

Es ist eine Ausstellung, wie sie so wohl niemand sonst in Polen mehr zeigen würde. Gleich fünf große Säle hat das Zentrum für zeitgenössische Kunst im Warschauer Ujazdowski-Schloss für Karol Radziszewski und die Schau "Die Macht der Geheimnisse" freigeräumt: ein Thema, das im gesellschaftlich konservativen Polen immer noch provoziert. Denn Gemälde und Fotos, Videos, Bücher und Installationen Radziszewskis und anderer Künstler wie Polens Avantgarde-Ikone Natalia LL oder des Fotografen Wolfgang Tillmans stellen Homosexualität in der Mitte und im Osten Europas in den Mittelpunkt.

Radziszewski zeigt eigene Gemälde und Teile des "Queer Archive Institutes" über den homosexuellen Underground in Polen und anderswo. Gemälde und Videointerviews dokumentieren das Schicksal der Solidarność-Ikone Marek Hołuszko, die seit einer Geschlechtsumwandlung 2000 Ewa Hołuszko heißt - und im Solidarność-Heldenpantheon seitdem kaum mehr vorkommt. Männerakte aus der Ukraine begleiten eine Installation Radziszewskis mit der Frage, ob der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko schwul war; Tillmans zeigt Fotos von Homosexuellen aus Sankt Petersburg: Es ist eine Ausstellung ganz in der progressiven Tradition des "Ujazdowski", wie seine Anhänger das Museum nennen. Es ist ein Dreh- und Angelpunkt für zeitgenössische Kunst, aber die nationalpopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und ein neuer Direktor könnten dieser Tradition ein Ende bereiten.

Nach 1989 kämpfte Polen mit Depression und leeren Staatskassen. Doch Künstler und Kuratoren bauten das Ujazdowski, ein Schloss, zum Kulturzentrum für zeitgenössische Kunst auf. "Am Anfang hatten wir drei Räume für Ausstellungen - der Rest waren alte Backsteine, Staub und Kälte", sagt der Kurator Piotr Rypson. Das Ujazdowski zeigte junge polnische Künstler und internationale Avantgarde-Vertreter wie Jenny Holzer. "Das Ujazdowski war immer etwas Besonderes - auch als Fenster zur Welt", sagt die Kunsthistorikerin und spätere Direktorin Małgorzata Ludwisiak.

"Für junge und aufstrebende Künstler ist es die wichtigste und lebendigste Plattform in Polen."

Multikünstler Radziszewski, aufgewachsen in einer katholisch-konservativen Familie in Białystok an der polnisch-weißrussischen Grenze, war 25 Jahre jung und gerade mit seinem Kunststudium in Warschau fertig, als 2005 die PiS zum ersten Mal an die Regierung kam. Lech Kaczyński, der verstorbene Zwillingsbruder des PiS-Chefs Jarosław Kaczyński, verbot als Bürgermeister eine Schwulenparade in Warschau; Erziehungsminister Roman Giertych schlug ein Gesetz vor, das Homosexuellen verbieten sollte, Lehrer zu werden.

Radziszwewski beschloss sein Coming-out und organisierte in der Wohnung eines Warschauer Freundes mit Bildern und Postern die, so sagt er, "erste offen homosexuelle Ausstellung in der Geschichte Polens". Avantgarde-Kuratoren waren begeistert. 2007 wurde Radziszwewski zum ersten Mal für eine Ausstellung ins Ujazdowski gebeten. "Für junge und aufstrebende Künstler ist es die wichtigste und lebendigste Plattform in Polen", sagt er.

Zur "Macht der Geheimnisse"-Ausstellung wurde er von Małgorzata Ludwisiak eingeladen. Sie beschreibt das Kulturzentrum als Experimentierstube für "radikale, experimentelle Kunst" - nicht nur für bildende Kunst, sondern auch für Theater- und Musikperformances, Film oder als Domizil für Resident Artists. Ob globale Kapitalströme, Klimaerwärmung oder Populismus - all dies sind für Ludwisiak Themen für zeitgenössische Kunst. Der Zuspruch gab ihr recht. "2019 hatten wir im Ujazdowski 210 000 Besucher - fast 60 000 mehr als bei meinem Antritt 2014. Und wir haben das jüngste Publikum aller Kulturinstitutionen in Warschau." Seit Januar aber ist sie nur noch eine ehemalige Direktorin.

Das Ujazdowski untersteht dem Kulturministerium, seit 2015 geführt von Piotr Gliński, der in Museen "den polnischen Standpunkt" betonen will. Er ernannte den parteinahen Kunsthistoriker Piotr Bernatowicz zum neuen Direktor des Ujazdowski von Januar 2020 an. Der Minister ignorierte den Protest Hunderter Künstler und Intellektueller, die Bernatowicz jegliche Eignung absprachen - auch, da sie seine Vorgeschichte im westpolnischen Posen kannten. Dort fiel der promovierte Kunsthistoriker zunehmend mit nationialpopulistischen Positionen auf.

Der neue Direktor des Ujazdowski kritisiert, dass "westliche, neomarxistische Kuratoren" die polnische Kunst dominierten

Als Direktor der städtischen Kunstgalerie Arsenal machte Bernatowicz mit der Ausstellung "Strategie des Aufstandes" Schlagzeilen. Der Künstler Wojciech Korkuc schuf dafür Plakate mit Slogans wie "Du bist abstoßend, hässlich und faul - werde Feministin oder geh zum Psychologen!" oder "Du bist schwul? Okay - aber verdirb die Minderjährigen nicht". Im Februar 2017 protestierten 76 Posener Künstler gegen Bernatowicz als Museumsdirektor - er wurde abgelöst.

Danach profilierte sich Bernatowicz in Warschau - jedenfalls aus Sicht der Regierenden. 2017 zeigte das Ujazdowski in Warschau "Spätes Polentum", eine Großausstellung zu Fragen und Problemen polnischer Identität nach 1989. Die Ausstellung, zu der rund 100 Künstler beitrugen, gefiel dem Kulturministerium wenig: Es heuerte Bernatowicz als Kurator der Gegenausstellung "Historiofilia" an. Dort durften Künstler etwa Polens ehemaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk bezichtigen, er habe im April 2010 zum Absturz des Regierungsflugzeuges in der russischen Stadt Smolensk beigetragen, bei dem Präsident Lech Kaczyński und viele andere polnische Politiker starben. Ein anderes Exponat zeigte, im Stil des "Arbeit macht frei"-Slogans am Eingang zum KZ Auschwitz, auf Russisch den Slogan "Wahrheit macht euch frei" und behauptete, Russland habe über die Ursachen des Absturzes in Smolensk gelogen.

Die Ausstellung war offenbar nach dem Geschmack von Kulturminister Gliński. Wenige Tage bevor dieser Bernatowicz auch offiziell zum Ujazdowski-Direktor ernannte, schimpfte Bernatowicz, dass "westliche, neomarxistische Kuratoren" in der polnischen Kunst dominierten. Er sei entschlossen, Schluss mit dem angeblichen Zustand zu machen, dass Künstler "alles, was traditionell ist, kritisieren" müssten, um Erfolg zu haben, beschrieb Bernatowicz seine Leitlinie als Ujazdowski-Direktor. Am 1. Januar trat er seinen Posten an.

Noch hat Bernatowicz keine Gelegenheit gehabt, seine Handschrift zu zeigen. Museumsprogramme werden oft Jahre im Voraus geplant. Das Programm für 2020 steht seit April 2019 fest. Ein Interview zu seinen Plänen und Inhalten hat Bernatowicz abgelehnt.

Auch andere Museen bekamen neue Direktoren, die erstmal berühmte Werke entfernten

Sein bisheriges Wirken hat die Kunstwelt alarmiert. "Die ganze Idee, dass eine linke Kulturmafia rechte Künstler ausschließe, ist nichts als eine Verschwörungstheorie", sagt die Ex-Direktorin Ludwisiak: "In den 20 Jahren, die ich in der Kunst tätig bin, habe ich einen Künstler noch nie nach seiner politischen Ausrichtung gefragt. Das einzige Kriterium ist, ob ein Künstler gut oder schlecht ist und ob er etwas zu sagen hat." Piotr Rypson fürchtet, dass es dem Kulturzentrum ergehen könnte wie zuvor dem polnischen Nationalmuseum. Dort hatte Rypson als Chefkurator die Abteilung für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts aufgebaut.

Doch Ende 2018 installierte der Kulturminister den Archäologen Jerzy Miziołek als Direktor. Miziołek, der Rypson entließ. Danach entfernte er das berühmte Pionierwerk "Die Kunst des Verbrauchs" der Breslauer Künstlerin Natalia LL, in der eine junge Polin Oralsex mit einer Banane andeutet, und löste Empörung aus. Nächster Schritt: Miziołek kündigte an, die meisten Kunstwerke des 20. und 21. Jahrhunderts ins Magazin zu verbannen und durch "polnische Kunst" zu ersetzen.

Der Kurs des Direktors nahm solche Formen an, dass die Belegschaft öffentlich seine Entlassung forderte. Ende November 2019 musste Miziołek seinen Hut nehmen. Ex-Vizedirektor Rypson zufolge haben "70 bis 80 der besten Mitarbeiter das Nationalmuseum verlassen. Es wird lange brauchen, bis es sich vom angerichteten Schaden erholt hat. Wir können nur hoffen, dass das Ujazdowski nicht dasselbe Schicksal erleidet."

Auch Radziszewski, der Künstler, ist besorgt. "Wenn das Ujazdowski unter Bernatowicz den gleichen Weg geht wie zuvor das Arsenal in Posen, wird es die Kunstszene dramatisch verändern. Dann haben wir in Polen die größte und wichtigste Institution für experimentelle Kunst verloren." Immerhin eine Befürchtung Radziszewskis hat sich nicht erfüllt: dass der neue Direktor die "Macht der Geheimnisse" direkt beim Amtsantritt am 1. Januar schließen würde. Die Ausstellung läuft noch bis zum 29. März. "Danach könnte es lange dauern, bis ich wieder in einem führenden Museum Polens ausstellen kann", sagt Radziszewski.

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SZ vom 03.02.2020
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