Kulturpessimismus:Revolution für Faule

Das Internet verbindet die Kulturinseln zu einer digitalen Weltreligion. Droht uns der komplette Kollaps der Menschlichkeit mit nachfolgender Nerd-Diktatur? Eine kurze Geschichte des Kulturpessimismus.

Peter Glaser

Es sind die Dinge, die der Mensch sich selber schafft, die ihn im Höchstmaß erstaunen. Naturwunder langweilen uns ein wenig in ihrer endgültigen Grandiosität. Der Bedarf an frischem dramatischen Nachschub, den der Kulturmensch verspürt, ist immens. Früher haben Kunst und Magie die Menschen in Erstaunen versetzt. Nicht erst seit heute sind es Technik und Wissenschaft.

Bill Gates tritt ab

Damit hat vieles angefangen: Die Microsoft-Gründer Bill Gates (rechts) und Paul Allen (links), im Jahre 1978.

(Foto: dpa)

Im Jahre 1863 weigerte sich der Rittergutsbesitzer Graf Stolberg, neben dem Industriellen August Borsig zu sitzen, weil er den Hersteller für Lokomotiven für ungebildet hielt. Heute gäbe es eine technische Lösung für das Problem: Man hielte sich vor Computern auf und könnte sich, körperlich separiert und ungestört von sozialem Rang, unterhalten. Die Ressentiments aber sind geblieben.

Der ehemalige Chefredakteur des Online-Magazins Salon, David Talbot, ist nicht der Einzige, der "Geistesmülllawinen" im Internet beklagt. In seinem aktuellen Traktat "Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht" sieht der Virtual-Reality-Pionier Jaron Lanier im expandierenden Online-Universum nicht kollektive Intelligenz am Werk, sondern einen digitalen Mob. Der amerikanische Autor Nicholas Carr befürchtet, dass durch die vernetzten Maschinen unsere Gehirne aufgeweicht und vor lauter Links, googlebaren Ablenkungen und Meteorschauern aus Mails und Tweets die Fähigkeit zu tiefer gehender Beschäftigung mit einem Text im Absterben begriffen sei: Untergang Abendland.

Der Mob denkt sich seinen Teil dazu: "Die teilweise auf Nietzsche aufbauende These einer ,Kulturverflachung' aufgrund zunehmender Bedeutung der ,Massen' gegenüber den ,kulturtragenden Eliten' früherer Epochen ist ein wesentliches Element von Ortega y Gassets 1929 erschienenem Werk ,Der Aufstand der Massen' sowie vieler seine Gedankengänge fortführender Autoren", vermerkt die Wikipedia-Gemeinde.

Skepsis und Sorge begleiteten jede neuen Technologie in ihren Anfängen. So war es auch bei der Einführung des elektrischen Lichts. 1882 hielt mit den ersten 65 Kunden der Edison Illuminating Company in New York die künstliche Beleuchtung Einzug in die USA. In Paris gingen die Damen damals nachts mit Schirmen durch die Straßen, da sie Angst vor dem stechenden Licht der Bogenlampen hatten. Hundert Jahre später begann sich wieder eine neue Technologie auszubreiten. Wie immer mit dabei: die Angst vor dem Ende bedeutender zivilisatorischer Errungenschaften durch ein neues Medium. Bereits 1878 hatte Nietzsche befunden: "Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Kultur, ist so groß geworden, dass eine Überreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist." Auftritt Frank Schirrmacher.

Mit seiner Streitschrift "Payback" hat der FAZ-Vordenker eine Art Skript für ein intellektuelles B-Movie vorgelegt, in dem sich ähnlich wie bei Carr gehirnfressende Maschinensysteme, verbunden zum Internet, über unser Bewusstsein und unsere Aufmerksamkeit hermachen. Da das entsprechende Grusel-Œuvre nicht neu ist - in den sechziger Jahren hieß es wahlweise "Reizüberflutung" oder "Managerkrankheit", später "Information Overload" oder "Trödelfaktor" -, bedient Schirrmacher sich eines rhetorischen Tricks. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einen Waldspaziergang zu beschreiben. Man kann sich von der Wahrnehmung einer Unzahl von Blättern und Tannennadeln überfordert sehen und eine Rückkehr zur humanistischen Gehölzwahrnehmungstechnologie fordern. Man kann aber auch einen Spaziergang durch einen Wald machen und erholt wieder nach Haus kommen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, welche Schreckensszenarien schon verbreitet wurden.

Die Liebe zum pompösen Untergang

Die Entwicklung der Medien- und Kommunikationstechnologie in den letzten anderthalb Jahrhunderten haben folgsam sich mitwandelnde Schreckensszenarios begleitet. "Ist unsere Zivilisation dem Untergang geweiht, weil wir uns heillos von Maschinen abhängig machen?", fragte Bennett Lincoln 1930 in dem Magazin Modern Mechanics. 1927 war der erste Tonfilm ins Kino gekommen. In den folgenden drei Jahren verloren 22000 Musiker aus Stummfilmorchestern ihre Jobs. Proteste gegen die "Robotermusik" führten 1930 zur Gründung der "Music Defense League", die um Unterstützung im Kampf um die Arbeitsplätze der Stummfilmmusiker warb. Auf Anzeigenmotiven zu sehen war unter anderem ein banjospielender Roboter - mit seiner mechanischen Serenade sei er dem echten Troubadour fundamental unterlegen: "Der Roboter kann nicht fröhlich noch traurig noch sentimental sein."

Mit der Ausbreitung des Fernsehens stand dem Ideal des in die Büchertiefen tauchenden Lesemenschen dann dieses gefährliche graue Leuchten gegenüber, das handgesägte Gedanken durch vorgefertigte Bilder außer Kraft zu setzen drohte.

Mit dem Walkman kam der erste Entwurf des quasi-autistisch isolierten, technisch zombifizierten Jugendlichen, der wenig später ein Update als blasser, sozial gestörter Computerfreak erfuhr. Mit der Einstellung der Walkman-Produktion im Frühjahr 2010 wurde die Stafette der Belämmerungsmaschinen offiziell an den iPod weitergegeben. Auch die Großbedrohungstechnologien bewegten sich nach dem Digitalen hin. In der Endphase des Kalten Kriegs machte die Atomwaffentechnik die Untergangsvision eines "Nuklearen Winters" populär, abgelöst vom modischeren Jahr-2000-Problem, das sich bereits der neuen Leitströmung ins 21. Jahrhundert zuwandte, der computervernetzten, computerverletzbaren Welt.

Kulturpessimismus ist Revolution für Faule. Den entscheidenden Umbruch, das Ende vom Lied, möchte der Kulturpessimist gern geliefert bekommen, am liebsten von einer ultimativen Übermacht. Der Deutsche etwa liebt den pompösen Untergang, das Wagnerianische, auch wenn es furchtbar eitel ist (Die Welt wird untergehen und ICH bin dabei), während der Amerikaner die Apokalypse nach Art der Erweckungstheologie bevorzugt, die Hilfe gegen die maßlose Überschätzung der Vernunft verspricht. Die Situation ist nicht ganz unkompliziert, da auch die Freunde des digitalen Fortschritts ganz gern mit kulturpessimistischen Methoden spielen. So freut sich der deutsche Nerd mit daran, dass die Erde in Douglas Adams' berühmter fünfteiliger Trilogie "Per Anhalter durch die Galaxis" einer kosmischen Umgehungsstraße weichen muss und gesprengt wird.

"Gesellschaften scheitern, das zeigt die Geschichte, nicht an Rohstoffknappheiten", sagt der Zukunftsforscher Matthias Horx. "Sie scheitern an ihren übersteigerten inneren Ängsten." Künstler haben seit gut einem Jahrhundert unsere heutige Lage vorausgeahnt.

Die Kubisten und Dadaisten haben Zeitungsschnipsel in ihre Bilder geklebt und die Notwendigkeit einer neu durchmischten, globalen Sicht deutlich gemacht, die mehr als nur eine Ansicht erfasst. In ihren Bildern zeigten sich die Erscheinungen der Welt bereits in multiperspektivischen Facetten, die schon den Polygonflächen der Computergrafik glichen. Die Entwicklung entfaltete sich in vielen anderen Bereichen.

Romane wurden geschrieben, in denen eine Geschichte aus mehreren Perspektiven erzählt wird. Lawrence Durrell mit seinem "Alexandria-Quartett" etwa, oder der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus mit "Pension Miramar". Arno Schmidts "Zettels Traum" ist eine 1330 Seiten umfassende Textpartitur. Im Film, der linearen Schrift aus Bildern, wird der allgegenwärtige Übergang aus dem Einen ins Viele besonders deutlich. Keine Explosion in einem Actionfilm, die nicht, von mehreren Seiten gefilmt, quasi kubistisch zu sehen wäre.

Nun verbinden sich seit zwei Jahrzehnten die ganzen Kulturinseln vermittels Internet zu einer digitalen Weltregion und Neumacht. Und während Wirtschaftstreibende, Wissensarbeiter und Otto Normaluser dem digitalen Wandel zu ihrem Nutzen oder ihrer Unterhaltung zu folgen versuchen und Spaßvögel ein Verdummungsverbot für das Internet fordern, wähnt man die Künstler wieder auf Vorposten, das Intuitionsradar hinausgerichtet ins Hypermorgen. Was kommt?

Klaus Staeck, immerhin Präsident der Akademie der Künste in Berlin, umreißt in der Aldi-Version eines Bocksgesangs unter dem Titel "Digitale Sackgasse" etwas, das man Kapitulismus nennen könnte - den kompletten Kollaps der vorherrschenden Menschlichkeit durch das Internet nebst nachfolgender nordkoreanischer Nerd-Diktatur: "Die glücklichen Empfänger brauchten keinen Schritt mehr vor die Tür zu setzen. Der würde auch nirgendwo mehr hinführen, denn wer zum Beispiel bei Amazon & Co. seine Lektüre bestellt, wird schnell zum Totengräber des Buchladens um die Ecke. ... Beerdigt sind damit zugleich die Begegnungen mit anderen Menschen und anderen Ansichten. Von versenkten Arbeitsplätzen im Einzelhandel ganz zu schweigen."

Anwärter auf Geschwindigkeitsrekorde mit Raketenfahrzeugen, die an vollkommen ebenen Flächen interessiert sind, wird gefallen, dass es noch platter geht: "Wenn Kommunen veröden, menschliche Kontakte verkümmern und gemeinsam gelebte Kultur verarmt, regieren nicht nur Entfremdung und Anonymität. ... Wer nur noch in der digitalen Welt zu Hause ist, wird in der realen bald kein demokratisches Gemeinwesen mehr vorfinden."

Es gibt sie noch, die guten Dystopien.

Der Autor ist Schriftsteller und Publizist, er lebt in Berlin. Als Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs begleitete er die Evolution der digitalen Kultur seit ihren Anfängen. Für seine Erzählung "Geschichte von Nichts" wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

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