Kulturgutschutzgesetz:Ohne Kunst keine Identität

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Der Schock war groß, als 1980 das Gemälde von Peter Paul Rubens "Samson und Delilah", über Nacht nach London geschafft wurde. (Foto: The National Gallery)

Die Aufregung ist so groß wie die Kritik am geplanten Kulturgutschutzgesetz. Warum die Gesetzesinitative notwendig und sinnvoll ist.

Von Arnold Nesselrath

In dem Augenblick, in dem in Italien das jahrhundertealte, beispielhafte Modell der Soprintendenze, der staatlichen Aufsicht über das nationale Kulturgut, "reformiert" wird, um es der Tourismus-Industrie zu unterwerfen, wartet die deutsche Kulturstaatsministerin mit einem neuen Kulturgutschutzgesetz auf. Es kann alle Sparten der archäologischen, kunsthistorischen und kulturhistorischen Zunft stimulieren und zu einer kreativen Reflexion über ihr Selbstverständnis anregen. Dies betrifft die Museen, aber auch die universitäre Bildung und den Handel. Es geht um den Schutz des Kulturgutes auf deutschem Staatsgebiet, wie er im Grundgesetz verankert ist, und um Normen für legale Einfuhr. Viele Staaten haben entsprechende Regelungen getroffen; selbst im kleinsten Staat der Welt, im Vatikan, gibt es explizit ein Kulturschutzgesetz. Man fragt sich, ob die Aufregung, die Monika Grütters entgegenschlägt, demselben Empfinden entspringt wie das sechzigjährige Zögern, dieses Thema in Deutschland in Angriff zu nehmen. Der Schritt war überfällig und, wie die heftige Diskussion zeigt, mutig.

Der Schock ist unvergessen, als 1980 das Gemälde von Peter Paul Rubens "Samson und Delilah", damals im Besitz eines Hamburger Fabrikanten, heimlich und über Belgien nach London geschafft wurde, um nach der Versteigerung bei Christie's im Triumphzug in die National Gallery gebracht zu werden. Der Kunsthistoriker Tilmann Buddensieg hatte nur drei Jahre zuvor einen brillanten Aufsatz zu dem Bild geschrieben. Er beklagte nun, dass es keine Möglichkeit gegeben hatte, den Aderlass zu verhindern, um die Kriegsverluste der großformatigen Bilder der Berliner Gemäldegalerie zu lindern.

Eklatanter noch als der neuerliche Ankauf der Humboldt-Tagebücher war 1983 der Erwerb des Evangeliars Heinrichs des Löwen aus dem 12. Jahrhundert, dessen Rückführung der Bankier Hermann-Josef Abs für 32,5 Millionen D-Mark organisiert hat. Bis heute ist nicht enthüllt worden, woher das damals teuerste Buch der Welt kam, als es nach Nazi-Zeit und Zweitem Weltkrieg vor seiner Versteigerung in London wieder auftauchte.

Die Liste denkwürdiger Objekte, die ausgeführt worden sind, ist lang, auch aufgrund der Tatsache, dass Kunstwerke, die in einem Bundesland keine Exportgenehmigung erhalten haben, aus einem anderen ausgeführt werden konnten. Das Risiko der bestehenden Regelung ist nicht kalkulierbar, daher ist die neue Richtlinie sehr willkommen.

Grütters Vorschlag ist zurückhaltender als die Gesetze anderer Länder

Erfahrungen aus Nachbarstaaten kennzeichnen Grütters Vorschlag, der zurückhaltender ist als die Gesetze anderer Länder. Die Geschichte des Kulturgutschutzes beginnt mit Ausfuhrbeschränkungen aus dem Kirchenstaat im 17. und 18. Jahrhundert. 1820 hat Kardinal Bartolomeo Pacca ein beispielhaftes Edikt erlassen, das die vatikanische und italienische Gesetzgebung bis heute prägt. Darin wurden die Verantwortung des Staates für die Kulturgüter, Zugriff auf Grabungsfunde, Ausfuhr, Inventarisierung, privater Kunstbesitz und Kontrollaufsicht des Staates geregelt. Gleich im ersten Artikel wird geklärt: "Die Kulturgüter, da konstituierende Elemente der kulturellen Identität der Nation, sind, was die Angelegenheiten ihres Umlaufes betrifft, nicht mit den Waren vergleichbar." Andere damals noch unabhängige italienische Staaten haben noch vor der Einigung Italiens dieses Edikt übernommen. Es ist Grundlage der italienischen Gesetzgebung bis zur Legge Bottai von 1939 und hat bis hin zur Einführung eines Kulturministeriums nachgewirkt, das auch in Italien erst 1975 eingerichtet wurde, obwohl es keinen Kulturföderalismus gibt. Das Kulturschutzgesetz des Vatikan steht ebenfalls in der Tradition des Pacca-Ediktes. Es regelt alle Bereiche der Kulturgüter, verpflichtet zur Anzeige von Ein- und Ausfuhr, schließt Dauerausleihe fast völlig aus und verlangt in jedem Falle einen gleichwertigen Austausch. Wie in Italien obliegt im Vatikan der Kulturgüterschutz dem Staat.

Das Alter von Kunstwerken für eine Ausfuhrgenehmigung im vorliegenden deutschen Gesetzesentwurf mit 50 Jahren anzusetzen, entspricht der italienischen Regelung. Diese hat für den italienischen Kunsthandel im Sinne des Zitates aus dem Pacca-Edikt in der Tat Einschränkungen zur Folge, sofern der Handel nur aus den inländischen Quellen schöpfen will. Sie hat andererseits spektakuläre Rückführungen illegal ausgeführter Werke, zuletzt vor allem von antiken Skulpturen und griechischen Vasen aus Amerika, ermöglicht. Dabei reicht der Nachweis aus, dass die Werke sich innerhalb eines bestimmten Zeitraumes in Italien befunden haben und keine Ausfuhrgenehmigung vorliegt. Eine neue Generation italienischer Kunsthändler nimmt mittlerweile am internationalen Geschäft teil und entwickelt Initiativen, die innovativer sind als der Abbau des kulturellen Erbes.

Die Verbindung von Alter und Wertgrenze für eine Ausfuhrgenehmigung trägt der Erfahrung mit der englischen Vorkaufsregelung Rechnung, die neuerdings vom Kunstmarkt durch die hohen Preise fast unwirksam gemacht wird, da die staatlichen Museen nicht unbegrenzt Geldmittel auftreiben können. Wenn die Wertgrenze für die Ausfuhrgenehmigung zu hoch liegt und keine Staffelung nach Kunstgattungen oder Objektkategorien mit niedrigerem Preisniveau existiert, besteht die umgekehrte Gefahr, dass bedeutende Stücke unbemerkt ausgeführt werden, also die Umkehrung des englischen Effektes. Nur für eingetragene Objekte müsste eine Genehmigung eingeholt werden.

Mit ihren Regelungen haben weder Italien noch Großbritannien sich in die Verlegenheit gebracht, definieren zu müssen, was "nationales Kulturgut" ist. Im Gegenteil, die britischen Kampagnen tragen das Motto: "Save for the Nation", nicht " of the Nation". So muss die nationale Bedeutung von Werken Raffaels, Tizians, Poussins, Van Goghs oder Picassos nicht gerechtfertigt werden; denn ihr Nachleben wirkt durch die staatliche Besitznahme weiter. Indem in Italien alles Kulturgut, was älter als 50 Jahre ist, einer Ausfuhrgenehmigung bedarf, kommt man ohne Definition aus. Dies gilt selbst für ein Gemälde des Großvaters, das älter als 50 Jahre ist, aber kaum zum nationalen Kunstgut erklärt wird, wie für Giotto. Hingegen eröffnet diese Praxis die Möglichkeit, gestalterisch mit dem Aufbau des nationalen Kunstgutes umzugehen. Zeitgenössische Kunst bleibt überall frei.

Pacca hat den Begriff der Nation sogar auf den Kirchenstaat angewendet. Gleichgültig, wie man ein durch eine Verfassung definiertes Territorium benennt, es geht zunächst um Kulturgüter, die ein Land hervorbringt, aber ebenso um Einflüsse fremder Kulturen auf dieses Land; man denke an Chinoiserien, afrikanische Kunst oder sogenannte exotische Werke. Wenn Provenienzforschung immer wichtiger und Sammlungsgeschichte ein breites Thema wird, bedeutet "nationales Kulturgut" mehr als Objekte, die aus der einheimischen Tradition erwachsen sind, sondern schließen die Pluralität der Anregungen ein; das Kulturgut der Museen besteht keineswegs nur aus nationalem Erbe. Mit Blick auf das Humboldt-Forum wird man den Begriff "nationales Kulturgut" noch viel weiter und kreativer, sogar in die Zukunft projiziert fassen müssen; denn die "Nation" wandelt sich stetig. Die Migranten, der Islam oder andere Entwicklungen in Deutschland werden ihren Niederschlag im "nationalen" Kulturgut finden müssen. Es geht, wie Pacca formuliert hatte, um "konstituierende Elemente der kulturellen Identität der Nation", das heißt einer verfassten Gesellschaft. Dabei hatte auch er die Zukunft im Auge.

Die geplante Novelle unterstreicht die Rolle der Museen als Bildungseinrichtung, indem der Bestand solcher staatlichen Institutionen geschlossen zum "nationalen Kulturgut" deklariert wird. Es ist eine ethische Frage, dass Bildungsgut und Bildungszusammenhänge nicht Spekulationen ausgesetzt werden.

In London war die Kooperation von Kunsthandel, Wissenschaft und Museen kontinuierlich zu spüren. Der Kunstmarkt kann, wenn es um zeitgenössische Kunst geht, ein konstitutives Element sein, bei alter Kunst ein wichtiger Partner. Der geplante Gesetzesentwurf ist für beide Möglichkeiten offen. Wenn er ähnlichen Maximen wie denen Paccas folgt und die Kunst davor schützt, nach kommerziellen Marktkriterien ausgebeutet zu werden, kann der Kunstmarkt seinen spezifischen Teil zur sozialen Marktwirtschaft, wie sie in Europa praktiziert wird, leisten. Es geht dabei nicht um Abgaben für Sozialleistungen, sondern um Einschränkungen, die der Bildung der Gesellschaft zugutekommen.

Eine Beurteilung, was nationales Kulturgut ist, kann nicht der Kunsthandel übernehmen

Die Neuregelung erfordert oft Einzelfallentscheidungen, setzt spezielle Kompetenzen und Qualitätsurteil voraus. Folglich wird die universitäre Bildung wieder stärker eine Kenntnis und Betrachtung der Objekte fördern müssen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker abgebaut worden sind. Der Berliner Tagespiegel hat im Rahmen der laufenden Diskussion treffend darauf hingewiesen, wie entscheidend ein unabhängiges Qualitätsurteil der Museen und Expertenkommissionen bei der Umsetzung der Gesetzesnovelle ist und dass man den Standard nicht beim Kunsthandel borgen darf. So wichtig die Zusammenarbeit mit dem Kunstmarkt ist, die Fähigkeiten zur unabhängigen Beurteilung des Kulturgutes in seiner Substanz, Originalität, Autorschaft, seinem Wert und seiner Qualität müssen wieder stärker gefördert werden. In der Bedeutung für die Lehre liegt der kreativste und politisch konstruktivste Impuls der Initiative.

Die Gesetzesnovelle zu Erhaltung und Schutz des Kulturgutes erfordert eine wissenschaftliche Positionsbestimmung und eine Dialogfähigkeit aller beteiligten Sparten. Für die sachliche und differenzierte Diskussion liefert Monika Grütters selbst das beste Beispiel und eröffnet durch ihre Politik Freiräume für die Kultur.

Der deutsche Kunsthistoriker Arnold Nesselrath ist stellvertretender Direktor der vatikanischen Museen in Rom. Gleichzeitig ist er Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin.

© SZ vom 27.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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