Was war denn nun typisch für die Kultur der DDR? Die ungezählten Appelle und Demonstrationen oder die Verse der sächsischen Dichterschule? Der Fernsehturm oder die Blöcke der Wohnungsbauserie 70? Die Schrankwand "carat" oder die Lieder Wolf Biermanns? Christa Wolf, die Samstagabendfernsehsendung "Ein Kessel Buntes" oder Bärbel Bohley? Der Trabi und das Nacktbaden? Oder doch Bertolt Brecht und Johannes R. Becher? Wer ein wenig im Gedächtnis kramt, dem wird noch viel mehr einfallen, Erlebtes, Gehörtes, Kurioses, Interessantes, Empörendes, Schönes.
Der Historiker Gerd Dietrich beginnt seine "Kulturgeschichte der DDR" mit einem Verweis auf Fülle. Das kleine Land sei Weltmeister gewesen "im Konsum von Spirituosen und in der Anzahl der Spitzel pro Kopf der Einwohner", es habe "die effektivste Buchzensur" besessen, aber auch "in der Buchproduktion und in der Zahl der Theater eine Spitzenposition" eingenommen. Achtundsechzig selbständige Theater gab es 1988 in der DDR, 120 in der dreimal größeren Bundesrepublik. Nirgends auf der Welt gab es eine höhere Orchesterdichte. Eine Spitzenposition sei dem Arbeiter- und Bauernstaat auch in Bezug auf die "Anzahl der Kleingärten wie der Motorräder pro Kopf sowie hinsichtlich der Religionslosigkeit der Bevölkerung" sicher gewesen.
Die Herrschenden beriefen sich gern auf Kultur, erwarteten viel von ihr. 1958, zwei Jahre nach dem XX. Parteitag, auf dem Nikita Chruschtschow vorsichtig Einblick in die Stalin'schen Verbrechen gewährt hatte, rief Walter Ulbricht die Arbeiterklasse, die in Staat und Wirtschaft bereits herrsche, dazu auf, "die Höhen der Kultur" zu stürmen und von ihnen Besitz zu ergreifen. Die "Kulturrevolution" sollte, so Dietrich, die Intelligenz disziplinieren und die Massen mobilisieren, sollte "zu höheren Arbeitsleistungen" motivieren. Die SED-Oberen verbanden dabei tradierte Ideen der deutschen Arbeiterbewegung und die "bei den Bolschewiki vorherrschenden kleinbürgerlich-volkstümlerischen Kulturideen antikapitalistischer Richtung". Die damals verabschiedeten zehn Gebote der sozialistischen Ethik und Moral verschwanden unter Erich Honecker wieder aus den Klassenzimmern, nicht aber der pädagogische Impuls der Erziehungsdiktatur.
Gerd Dietrich, Jahrgang 1945, gebürtiger Thüringer, studierte Geschichte und Sport in Halle, arbeitete am Institut für Marxismus/Leninismus beim ZK der SED, veröffentlichte Dokumente zur Kulturpolitik in der Sowjetischen Besatzungszone und wechselte 1987 an die Akademie der Wissenschaften. Von 1992 bis 2010 lehrte er als einziger Historiker aus der DDR Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, immer mit befristeten Verträgen. Seine "Kulturgeschichte der DDR" ist ein Lebenswerk. Er will Widersprüche, unauflösbare Gegensätze, Ambivalenzen des Lebens in der DDR darstellen. Auf mehr als 2400 Seiten berichtet er über Kulturpolitik und Alltagsleben, Künstler und Kunstwerke, Institutionen und Konflikte. Der Stoff wäre groß und verwickelt genug für einen ganzen Sonderforschungsbereich gewesen.
Da Gerd Dietrich eine klare, analytisch begründete Gliederung mit großer Liebe für Details, Fakten, Zahlen, Namen, Zitate verbindet, kann man in den drei Bänden ebenso schmökern wie sie als Chronik und Nachschlagewerk nutzen. Es geht um: "Übergangsgesellschaft und Mobilisierungsdiktatur 1945 - 1957", "Bildungsgesellschaft und Erziehungsdiktatur 1958 - 1976", "Konsumgesellschaft und Fürsorgediktatur 1977 - 1990". Jeder Band enthält eine Einführung und am Ende eine kulturpolitische Bilanz. Gewünscht hätte man sich ein umfangreicheres Literaturverzeichnis (viele Titel tauchen nur in den Anmerkungen auf) und mehr Abbildungen.
Gerhard Dietrich verteidigt die ostdeutsche Erinnerungsprovinz im neuen, vereinten Deutschland
Dietrich benennt sieben kulturpolitische Motive. Zur antifaschistischen Umerziehung, die mit der "Erziehung der Erzieher" begann, trat - zweitens - das Hochkulturmotiv. Für den Neuanfang nach 1945 wie für die "sozialistische Kulturrevolution" war die Pflege des "klassischen Erbes" von zentraler Bedeutung, und immer wieder verbunden mit dem Bekenntnis zu Idealen der bürgerlichen Epoche. In ihrem Namen attackierte man Brecht und Eisler, betrieb Kampagnen gegen den "Formalismus", zögerte lange, etwa den Meister der Fotomontage John Heartfield angemessen zu würdigen. Drittens ging es um die Öffnung des Zugangs zu Bildung und Kultur für alle, Dietrich nennt dies das "Demokratisierungsprinzip". Zugleich galten Kultur und Kunst, viertens, als Waffe im Kampf der Klassen und Systeme. Außerdem erhoffte man, sie würden, fünftens, der Produktivitätssteigerung dienen. Hanns Eisler kommentierte das sarkastisch: "Wir brauchen Kartoffeln, also - eine Kartoffel-Kantate". Sechstens wurde die Breitenkultur bewusst gefördert, Ziel war "der singende, musizierende, schreibende, malende, tanzende, filmende und Theater spielende Arbeiter". Schwer tat man sich, siebentens, lange mit Unterhaltung, Genuss, Vergnügen, Entspannung.
Dass die DDR so viel Wert auf Kunst und Kultur legte, hatte zum einen mit den Traditionen des Protestantismus und der deutschen Arbeiterbewegung zu tun, die Bildung als Mittel der Emanzipation hoch schätzte, zum anderen aber auch mit der besonderen Lage des Landes, das immer auf der Suche nach seiner Identität war und ein spezifisches Unterlegenheitsgefühl zu kompensieren versuchte, gegenüber der dominierenden Sowjetunion wie gegenüber der prosperierenden, wirtschaftlich nie einzuholenden Bundesrepublik. Kultur diente, so Dietrich, als "Religions- und Politikersatz, als ein Ort der Kompensation für verloren gegangenen religiösen Gottesdienst und vorenthaltene politische Partizipation".
Wer sich über Maler, Architekten, Musiker und Schriftsteller, über Urlaub und Freizeit, Zensur und Aufmüpfigkeit, Langeweile und Anspannung, Sex und Generationenkonflikte in der DDR informieren will, findet in dieser Kulturgeschichte reichlich Material. Wer fragt, was das Typische gewesen sei, wird sich selber den Kopf zerbrechen müssen. Gerd Dietrich argumentiert am Ende vor allem gegen zeithistorische Urteile aus den Neunzigern und verteidigt die ostdeutsche Erinnerungsprovinz im neuen, vereinten Deutschland. Wie dessen Geschichte zwischen Mauerfall und Sommermärchen vom Streit um das DDR-Erbe geprägt wurde, wäre Thema für ein eigenes Buch.
Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR. Drei Bände. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018. Zus. 2429 Seiten, 120 Euro.