Kulturgeschichte:Hofmannsthals Brillengläser

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Florian Illies hat seinen genialen Einfall von 2012 erneuert, das letzte Friedensjahr vor dem Ersten Weltkrieg in einer Chronik zum Bild zu machen. So muss der "Sommer des Jahrhunderts" noch eine Runde drehen.

Von Gustav Seibt

Florian Illies: 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 304 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Er hat es wieder getan. Florian Illies hat seinen Einfall von 2012 erneuert, das letzte Friedensjahr vor dem Ersten Weltkrieg in einer nach Jahreszeiten geordneten Chronik aus dem Leben und den faits divers der kreativen Klasse zum Bild zu machen. Der Gedenkkalender ist längst bei Waffenstillstand und Versailler Vertrag angelangt - die Büchertische biegen sich -, aber Illies hat die Versuchung verschmäht, seine Protagonisten nun auch nach der Urkatastrophe, die sie so wenig erwartet hatten, zu zeigen. Wie ist es ihnen ergangen? Denn die meisten lebten 1918/19 ja noch, Rilke, Proust, Kafka, Thomas und Heinrich Mann, Spengler, Picasso, Strawinsky, Gerhart Hauptmann.

Viele hatten miteinander gekämpft, nicht auf Schlachtfeldern, sondern in Schriften: Romain Rolland und Stefan Zweig, Heinrich und Thomas Mann, deutsche Professoren gegen alliierte Propaganda. Nun musste man auch im Menschlichen die Scherben wieder aufkehren. Der Krieg wurde rasch Teil jener großen Werke, die schon 1913 auf den Schreibtischen gelegen hatten: "Zauberberg", "Mann ohne Eigenschaften", "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit".

In seinem Buch "1913" hatte Illies mit überraschenden Durchblicken - schon damals sexuelle Experimente, Farbfotografie, Ecstasy, Aldi - suggeriert, die uns so ähnliche lässige Moderne hätte die gewaltsame heroische Moderne überspringen können. Schnellstraße in die Gegenwart statt Zivilisationsbruch! Es hätte so schön werden können, das zwanzigste Jahrhundert!

Das neue Buch von Florian Illies wiederholt in kleinerem Format einfach "1913"

Doch das neue Buch macht die Gegenprobe nicht. Es wiederholt in kleinerem Format einfach "1913". Der "Sommer des Jahrhunderts", so der damalige Untertitel, darf noch nicht in die Ferien gehen, er muss noch eine zweite Runde einlegen. An der Methode hat sich nichts geändert: Naturzeitlicher, damit überzeitlicher Verlauf. Glossenartige Geschichten aus dem Feuilletonbuch der Zeitung, aber als People-Journalismus; nicht Rezension, sondern Begegnung im Gespräch. (Dabei sagen uns kompetente Mittler des Zeitgeistes - im Jahr 2018 -, die scharf analytische Rezension sei längst wieder im Kommen, es habe sich Überdruss an den feuilletonistischen Reportageformaten eingestellt.)

Dies bleibt auch ohne den Überrumpelungseffekt des ersten Buchs lustig. Rilkes frauenverstehende Nähe zur auch von Karl Kraus angebeteten Sidonie von Nádherný beschreibt Illies so: "Als im Frühling ihr geliebter Bruder gestorben war, da fand Rilke mit seinem Ton des nichtaussprechenden Verstehens als Einziger Zugang zu den Schattenkammern ihres Herzens. Sie schwieg stets viel, das fand Rilke vielsagend." Man merkt, dass Illies inzwischen viel Proust nachgearbeitet hat, der im ersten Band kaum auftauchte und nun einer der Protagonisten des zweiten wurde.

Auch die Schnelldurchblicke ins Heute tauchen wieder auf: Erste Boutique von Coco Chanel, erste Tankstelle, die Telefonwählscheibe wird patentiert. Auch hier wieder der innige Wunsch: Hätten wir doch besser mit Chanel weitergemacht statt mit Graf Schlieffen! Unterdessen schärft die Wiederholung den Blick auf die Machart. Wie und auf welchen Wegen wirken eigentlich die Dutzenden Einzelgeschichten von Illies?

Einmal durch die frappierenden Durchblicke des damals Begonnenen, das heute noch da ist: Tankstelle, Büroartikelmesse (wo sich Kafkas keusch geliebte Felice Bauer herumtreibt). Oder durch reizvolle Analogien: Das große Jugendbewegungstreffen auf dem Hohen Meißner nennt Illies ein wilhelminisches Woodstock, blickt aber auch zurück zu Wartburgfest und Hambacher Fest - unversehens wird aus Annalistik eine Andeutung von historischem Prozess. "Neurasthenie", die Modekrankheit der Epoche nennt Illies das ADHS dieser Zeit.

Dann wirken die Anschaulichkeiten durch das, was physiologisch gemeinsam bleibt: Hofmannsthal beschlagen sich die Brillengläser (Illies, das haben Sie erfunden, nicht einmal Hofmannsthal wird beschlagene Brillengläser ins Notizbuch aufnehmen - aber stimmen tut es auf jeden Fall). Schließlich auch durch Kontraste, die uns zugänglich sind, weil sie auf gemeinsamen Gebieten liegen. So zeigt Illies, dass im Durchschnitt die Frauen viel, viel eingepackter als heute waren - darum der Erfolg von Madame Chanel. Und so lesen wir das wieder gern, hätten uns aber doch gewünscht, der hochbegabte Autor wäre zu neuen Ufern aufgebrochen wie so viele seiner Helden.

© SZ vom 27.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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