Kulturgeschichte der Scham:Schäm dich!

Strandbad Wannsee, 1938

Strandbad Wannsee, 1938: Frauen durften damals nur baden, wenn "Brust und Leib an der Vorderseite des Oberkörpers vollständig bedeckt sind".

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Grapschen in Schwimmbädern und Clubs geht gar nicht. Oder: Nicht mehr? Wie unsere Gesellschaft sich ihre liberale Moral erkämpfte.

Von Till Briegleb

Es hat schon jetzt gute Chancen, das Wort des Jahres 2016 zu werden: "Grapschen" ist seit ein paar Wochen in aller Munde. Männer grapschen in Badeanstalten und neuerdings auch in Freiburger Clubs, genauer: Flüchtlinge aus dem arabisch sprechenden und muslimisch geprägten Kulturraum grapschen offensichtlich wahllos und in Rudeln weiße Frauen an.

Was in der Aufregung ziemlich untergeht, obwohl es der emotionale Hauptgrund für die Intensität der Empörung sein könnte, ist die Kollision unterschiedlichen Schamempfindens, die sich dabei vollzieht. Scham, dieses hitzige Gefühl, das in Kulturen regelt, was als anständig und respektvoll gilt oder was, umgekehrt, "gar nicht geht", müsste durch die jüngsten Vorfälle eigentlich deutlich mehr Aufmerksamkeit erhalten.

Vor allem Frauen haben seit den Fünfzigerjahren in den reichen Staaten der westlichen Welt für die Freiheit von belastenden Schamgefühlen gekämpft. Doch diese Errungenschaft wird nun mit einem neuen normativen Unverständnis vieler muslimischer Migranten konfrontiert. Deren Schamgefühl hindert die Männer scheinbar nicht daran, Frauen anzufassen, die das nicht wollen und die das auch sehr deutlich zum Ausdruck bringen.

Unsere Schammoral ist nicht in Stein gemeißelt

Im Feminismus wurde diese Situation als Vorwurf beschrieben, der Mann behandele die Frau nur als "Sexobjekt". Nun machen uns die Vorfälle plötzlich bewusst, wie sehr unsere "überlegene" freie Schammoral eben auch nur das Resultat eines langen Kulturwandels und -kampfes ist und dadurch eben nicht in Stein gemeißelt. Diese Verunsicherung erfasst selbst Menschen, die an die heftigen Auseinandersetzungen seit der wilhelminischen Moralgesellschaft überhaupt keine persönliche Erinnerung mehr haben.

Die Grapschereien werfen die Gesellschaft in gewisser Weise zurück in die Nachkriegszeit, als Kellnerinnen betätschelt wurden, die nackte "Sünderin" Hildegard Knef einen Kapitalskandal auslöste und Frauen in der Ehe nicht Auto fahren durften.

Blickt man noch weiter zurück, so zeigt es sich, dass das Schamgefühl und der Skandal nicht nur dann erregt werden, wenn kulturelle und religiöse Hintergründe eine Rolle spielen, wie etwa im jetzigen Fall. Da Scham nur auftritt, wenn der Mensch gegen seine eigenen Wertmaßstäbe und Selbstbilder verstößt und dabei ertappt wird, sind religiös-moralische Prägungen von entscheidender Bedeutung. Aber auch zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse mit demselben religiösen Moralkodex lagen früher Welten im Empfinden darüber, was als schicklich galt.

Plötzlich war der Körper wer

Ein Mann, der damals mit Seidenhalstuch und rundem Bauch als Ausweis von Stand und Wohlstand auftrat, folgte selbstverständlich der Doppelmoral, dass devote Züchtigkeit allein für die Ehefrau galt. Sie durfte in ihrem Leben nur einen einzigen Geschlechtspartner haben, nämlich ihren Ehemann, während dieser die virulente Bordellkultur am Leben hielt.

Die Situation der Mehrzahl der arbeitenden Menschen erlaubte dagegen weder zu viel Sittsamkeit und kunstvolle Rücksicht noch kostspielige Ausschweifungen. Schamgefühl wurde hier ganz praktisch reduziert. Über Jahrhunderte lebten Bauern und Arbeiter mit ihren Kindern in einem einzigen Raum zusammen, und es galt schon als besonders aufmerksam, wenn die Sprösslinge bei der elterlichen Erzeugung von neuem Nachwuchs ins Treppenhaus geschickt wurden.

Der unmittelbare Zusammenhang von Schamgefühl und Privatsphäre führte überhaupt erst mit dem Demokratisierungs- und Wohlstandsprozess der Nachkriegszeit dazu, dass ein eher allgemein verbindliches Schamempfinden entstehen konnte. Die architektonische Umsetzung erlebbarer Intimität, die Mehrzimmerwohnung, ermöglichte den meisten Menschen erstmals einen privaten Rückzugsraum. Von nun an mussten Erfahrungen sexueller Erregung nicht mehr im Auto am Waldrand oder hinterm Stall gemacht werden.

Die Textilien wurden knapper, der Stolz stieg

Gleichzeitig verwandelte sich der werktätige Körper mit dem Aufkommen der Konsumgesellschaft von dem starken Werkzeug zur Lebenserhaltung, dem man oft nicht so viel Aufmerksamkeit schenkte, in den Kampfplatz des Selbst. Und als solcher wollte er präsentiert, geschmückt und empfunden sein. Der Körper war plötzlich wer.

Die schleichende Entblößung der Badenden über die Jahrzehnte kann als Gradmesser für diese Verwandlung des dienstbaren Körpers in einen Schauplatz der Selbstwahrnehmung gelten. Vom Badeverbot für Damen im 19. Jahrhundert über den "Zwickelerlass" von 1932, der Frauen das öffentliche Baden nur erlaubte, wenn "Brust und Leib an der Vorderseite des Oberkörpers vollständig bedeckt sind", bis zur Akzeptanz des Bikinis in den späten Sechzigern und dem Aufkommen von "Oben ohne" wurden die Textilien knapper, während der Stolz stieg.

Dabei haben Kultursoziologen allerdings darauf hingewiesen, dass die präsentierte Nacktheit eher die Haut zum Anzug werden lässt. Außerdem ist von Psychologen sehr bezweifelt worden, dass Nacktbewegungen, wie die in der DDR so beliebte Freikörperkultur, beim Einzelnen tatsächlich ein Gefühl der Befreiung von Scham herbeigeführt hätten. Nacktheit kann zum Gruppenzwang werden, dem man sich genauso beugt wie dem Tragen von Krawatten im Büro. Da eines der größten Wunder des Schamgefühls darin besteht, sich hinter Masken komplett unsichtbar zu machen, so kann selbst die nackte Haut eine Verkleidung liefern, die nichts über die wahren Gefühle des Menschen aussagt.

Erst Solidarität macht Veränderung möglich

Dennoch ist die Heftigkeit der Kämpfe gegen Moralvorstellungen und Konventionen des richtigen Lebens, die vor allem im 20. Jahrhundert geführt wurden, immer auch eine Rebellion gegen damit einhergehende Schamandrohungen. Der Feminismus, die Schwulen-und-Lesben-Bewegung, aber auch die Gleichberechtigungsbestrebungen der Schwarzen haben sich sehr stark gegen Herabwürdigungen gewehrt, die exakt auf das Schamempfinden zielten. Die Würde eines Menschen zu verhöhnen und ihm das Gefühl zu geben, minderwertig zu sein, ist die perfide, aber ungeheuer erfolgreiche Gefühlspolitik von Machteliten. Auf diese Weise können sie riesige Kollektive in ihren Schamängsten gefangen halten.

Auch Armut gehört natürlich in diesen Komplex des schamvollen Daseins, das nicht zu Selbstvertrauen, sondern zu Schuldgefühlen neigt. Solange die Vorstellung in den - westlichen - Menschen siegt, dass ihnen allein ihr individuelles Versagen die Anerkennung der Gesellschaft vorenthält, fesselt ein Gefühl von Scham sie in Ohnmacht. Deswegen konnte die Befreiung von Schamängsten in der Geschichte immer nur dann gelingen, wenn große Gruppen von Menschen sich von ihrer emotionalen Isolation durch Solidarität befreiten. Festzustellen, dass es vielen Menschen in gleicher Lage genauso geht, wie einem selbst, führt überhaupt erst zu den gesellschaftlichen Prozessen der Veränderung, von deren Ergebnissen wir heute so selbstverständlich profitieren.

Mittlerweile lebt die deutsche Gesellschaft also in einem Zustand, in dem es eine relativ gesicherte Verständigung darüber gibt, welche körperlichen Kontakte erwünscht sind und welche als Übergriffe gelten. Aber dieser hart erkämpfte Konsens scheint wieder akut bedroht zu sein in der Konfrontation mit einem fremden Wertesystem, das Geschlechtertrennung, Verschleierung des Körpers, Baden in Vollbekleidung für Frauen und Gesetze des Patriarchats für kulturelle Kernelemente hält.

Doch natürlich spielt auch aufseiten der "Grapscher" Scham eine bedeutende Rolle. Bei aller Willkommenskultur in Deutschland bleibt die konkrete Lebenssituation dieser männlichen und alleinstehenden Flüchtlinge überaus beschämend. Ohne Geld, Arbeit, Sprachkenntnisse und Ansehen in Container- und Zeltsiedlungen hinter der Stadtgrenze zu hausen, und dank existierender Ressentiments gegen arabische Männer in unserer Gesellschaft keinerlei Chance auf dem Markt der Gefühle zu haben, das ist auch ohne islamische Männlichkeits- und Ehrbegriffe eine überaus stolzverletzende Erfahrung.

Wie diese Kränkung zu sexuellen Angriffshaltungen führen kann, das kennt die deutsche Gesellschaft noch aus den Jahren, als die erste Welle türkischer "Gastarbeiter" ohne Familiennachzug in städtischen Randsiedlungen wohnte und als "Discofrottierer" verschrien war.

Weder Benimmkurse noch Pfefferspray machen gute Staatsbürger

Das Verstehen von erfolgreichen Wegen zu einem gleichberechtigen Zusammensein - für das auch deutsche Männer ein paar Jahrzehnte gebraucht haben -, kann also erst dann gelingen, wenn das Leben der Flüchtlinge in Deutschland nicht mehr aus einer Kette von beschämenden Einzelsituationen besteht. Darum ist es absurd, sich einzubilden, dass eine "Besserung" männlicher Neuankömmlinge mit kurzfristigen Maßnahmen erreicht werden kann. Weder Benimmkurse, Pfefferspray und Gesetzesverschärfungen noch das Verhüllen von nackten Statuen beim Besuch des iranischen Präsidenten wie nun in Rom geschehen oder die Leugnung der Triebprobleme aus falsch verstandener "Refugees"-Liebe machen aus aggressiven Männergruppen gute Staatsbürger.

Die einzige Lösung bleibt der geduldige und streitbare Weg, den unsere Gesellschaft bereits hinter sich zu haben schien. Die Beschämten vom Rand der Gesellschaft in ihre Mitte zu holen - und zwar räumlich, ökonomisch und sozial. Und auf diesem Weg kann man den Übeltätern vielleicht auch mal erklären, warum deutsche Jungs im Sangria-Rausch auf Malle grölenden Mädchen die Bikinis runterreißen, ohne dass die Welt sich empört. Tatsächlich ist sie nämlich immer noch ganz schön kompliziert, unsere deutsche Schamgesetzgebung.

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