Süddeutsche Zeitung

Kulturgeschichte:Abenteuer eines Chamäleons

"Blut und Öl im Orient": Vor neunzig Jahren begannen unsere Islamdebatten mit dem Buch des 24-jährigen, zum Islam konvertierten Juden Essad Bey.

Von Stefan Weidner

Man verschlingt dieses Buch in einem Zug, aber bis zum Schluss wissen wir nicht, worum es sich eigentlich handelt: Um ein orientalisches Märchen, um einen Schelmenroman, eine romanhafte Autobiografie, einen Augenzeugenbericht, eine Kulturgeschichte, ein zeitgeschichtliches Sachbuch, eine antibolschewistische Propagandaschrift? Die Frage nach Genre und Wahrheitsgehalt ist alles andere als akademisch. Die leichthin angeschlagenen Themen sind bis heute von größter Sprengkraft.

So schillernd wie das Buch ist sein Autor. Zu seinen Lebzeiten (1905 - 1942) war Essad Bey zwar berühmt und berüchtigt, aber kaum jemand wusste, wer er wirklich war: Für die einen ein Jude, für die anderen ein Muslim, für die einen ein Deutscher, für die anderen ein Russe oder einfach nur ein Spion, Hochstapler, Scharlatan. Halbwegs gesicherte Informationen haben wir über ihn erst seit der großartigen Biografie von Tom Reiss, "Der Orientalist" (Deutsch 2008).

Mit einem Federstrich fertigt Essad Bey die Anthropologen ab, die ständig Schädel vermessen

Lev Nussimbaum, wie er ursprünglich hieß, war das einzige Kind eines im Ölgeschäft zu Wohlstand gekommenen ukrainisch-jüdischen Kaufmanns. Von der bolschewistischen Revolution aus Baku nach Europa vertrieben, ging er in Berlin auf das russische Gymnasium. 1922 konvertierte er in Berlin zum Islam; weniger aus religiösen Gründen als aus Faszination für eine Kultur, die er als offenherziger und kosmopolitischer erlebt hatte als die der Kommunisten und Nationalisten, die seine Familie vertrieben und enteignet hatten. Aus Lev wurde der arabische Name für Löwe, Essad. Unter diesem Namen veröffentlichte er die meisten seiner Bücher, allerdings nicht sein bekanntestes. Wie Reiss nachgewiesen hat, ist Essad Bey nämlich auch der Autor von "Ali und Nino", einem populären, noch heute lesenswerten Liebesroman aus dem Kaukasus, geschrieben auf Deutsch und publiziert 1937 in Wien unter dem Pseudonym Kurban Said.

Bereits mit Anfang zwanzig regelmäßiger Mitarbeiter der renommierten "Literarischen Welt", wurde Essad Bey mit seinem nun wieder aufgelegten Erstling auf einen Schlag ein skandalumwitterter Bestsellerautor, gegen den pensionierte deutsche Generäle ebenso polemisierten wie eine kuriose Allianz aus Bolschewisten, Muslimen und Antisemiten.

Obwohl von 1935 an mit Publikationsverbot belegt (deshalb das Pseudonym Kurban Said) und zur Flucht nach Italien genötigt, blieb er bis zu seinem frühen Tod aufgrund einer Gefäßkrankheit ein Anhänger der Faschisten. Ihnen allein traute er zu, den Bolschewismus zu besiegen. Zwar war er ein Vielschreiber. Doch dass er nahezu völlig aus unserem kulturellen Gedächtnis gelöscht wurde, ist ein Unglück. Er war nicht nur einer der wenigen Vorkriegsautoren, die ein populäres, kundiges und sympathisches Orientbild vermittelten; er war von heute aus gesehen auch Urahn und Vorfahre all jener aus der islamischen Welt zugewanderten Autoren, die sich für das Deutsche als ihre Literatursprache entschieden haben. Und auch nach neunzig Jahren liest sich "Öl und Blut im Orient" wie eben erst geschrieben.

So wenig Essad Bey davor zurückschreckt, die im Titel anklingenden Klischees zu bedienen, so sehr hat er sich zugleich den Kampf gegen Vorurteile auf die Fahnen geschrieben. Nach einigen süffisanten Anekdoten aus dem Harem eines Sultans erklärt Essad Bey aus Anlass der bolschewistischen Plünderungen Bakus von 1918: "Ein Harem ist in den Häusern des Mittelstandes das Zimmer, das die Frau des Hauses - meistens nur eine - mit ihren Kindern bewohnt." Und setzt hinzu: "Auch ich wurde geplündert; ich führte die Leute selbst durch mein Zimmer und machte sie auf das und jenes aufmerksam, was sie eventuell gebrauchen könnten. Sie dankten verwundert und griffen zu."

Mit dem Harem verhält es sich wie mit den europäischen Ethnologen, die nach Baku kommen, um Dinge zu finden, welche die Einwohner seit jeher kannten. Den Tempel der Feueranbeter zum Beispiel, dessen Entdeckung "trotz eifrigen Suchens der Gelehrten nur einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen sei", wie Essad Bey ironisch schreibt, steht "inmitten des Ölbetriebs und ist ein beliebter Ausflugsort der Stadtbewohner."

Dieser Mann war ein Simplicissimus des zwanzigsten Jahrhunderts

Mit einem Federstrich werden die Anthropologen abgefertigt, die Schädel vermessend durch die Welt zogen: "Die Leute auf dem Lande haben nämlich keine Schädel, die den üblichen Proportionen entsprechen. Der Schädel des Bauern ist willkürlich geformt und entspricht nicht seinen Rassemerkmalen, sondern dem Schönheitssinn seiner Eltern oder noch besser der geltenden Mode" - Kinderschädel sind formbar! Auch sonst erteilt Essad Bey allen Konzepten von Blut und Rasse eine entschiedene Absage. Mag er mit den Faschisten sympathisiert haben, in seinen Schriften ist er ein Humanist. Die Verbrechen der Bolschewisten werden klar benannt; aber dieselbe Empörung gilt der katastrophalen Situation der einfachen Arbeiter auf den Ölfeldern.

Dabei erspart uns Essad Bey weder die brutalen Details der durchaus wechselseitigen Massaker von Muslimen und Armeniern, noch die nicht weniger brutale Vorgehensweise mal der deutschen, mal der englischen Eroberer Bakus. Das alles wird zusammengehalten vom erzählerischen Rahmen der mit zahlreichen, teils sicher erfundenen Anekdoten angereicherten Jugend- und Fluchtgeschichte. Wir wissen seit der Biografie von Tom Reiss aber auch, dass erschreckend viel daran wahr ist: Die behütete Kindheit inmitten der verfeindeten Ölbarone von Baku, die vorrevolutionären Wirren, der Selbstmord der Mutter, die eine Freundin des jungen Stalin war, die Flucht über das Meer und durch die Wüste, die Verstecke in Kellern und Palästen, bei Freunden und Fremden.

Essad Bey ist ein Simplicissimus des zwanzigsten Jahrhunderts, nur dass der Orient sich seit 1914 nicht in einem dreißigjährigen, sondern einem über hundertjährigen Krieg befindet. Trotzdem wünscht man sich beinah, es würde in der Realität so zugehen wie in diesem Buch: "Die Rettung kam, wie immer, unerwartet und im letzten Augenblick, fast wie in einem Kolportageroman schlimmster Sorte."

Bis der unerwartete Augenblick endlich eintritt, können wir uns mit diesem bibliophil gestalteten Buch trösten, abgerundet durch eine biografische Skizze über den Autor von Sebastian Januszewski und eine Ortsbegehung Marko Martins in Baku, wo die Erbdiktatur der Aliyevs die blutige Groteske, die Essad Bey geschildert hat, laufend um neue Spielarten erweitert.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2018
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