Süddeutsche Zeitung

Kulturfundamente:Grenzen

Egal ob von Chris Dercon auf der Bühne oder in der Kunst, der vom Fettecken-Visionär Joseph Beuys entwickelte "Erweiterte Kunstbegriff" wird gerade arg strapaziert.

Von Till Briegleb

Am 26. November 1965 verschloss Joseph Beuys die Türen der Galerie Schmela in Düsseldorf und ging, seinen Kopf mit Blattgold verziert und einen toten Hasen auf dem Arm, durch die Räume, um dem Kadaver die Bilder zu erklären. Die Zuschauer blickten durch die Scheibe dem Kunsttheater zu. Diese Performance gilt als die vielleicht wichtigste Aktion von Beuys, um seine Theorie des "Erweiterten Kunstbegriffs" zu demonstrieren. Mit seiner theatralischen Inszenierung und ihrer begeisterten Rezeption war der Anspruch der Künstler praktisch und theoretisch durchgesetzt, in Zukunft alles tun zu dürfen.

Am 10. November 2017 ließ Chris Dercon die Türen der Berliner Volksbühne öffnen und ging durch die Räume des Theaters, um dem lebendigen Zuschauer seinen erweiterten Kunstbegriff zu erklären - mit Performances von Tino Sehgal. Diese recht einhellig verrissene Kunstpädagogikveranstaltung für Theatergänger (siehe SZ-Kritik vom 13. November) wirkte wie eine missglückte Variation der Beuys'schen These mit dem Schluss, dass Kunst vielleicht alles darf, aber das vielleicht gar nicht tun sollte.

In Zeiten von "Anything goes" wächst die Sehnsucht nach Konzentration

Die rund 50 Jahre auseinanderliegenden Ereignisse markieren zwei Pole einer Diskussion, wie viel Kunst und Theater eigentlich gemeinsam haben, und was sie trennt. In beiden Bereichen wurden dieses Jahr Kontroversen ausgefochten, welchen Einfluss die jeweils andere Sparte verdient. Gibt es zu viele Performer auf den Bühnen, wurde von der einen Seite gefragt? Müssen Kuratoren wirklich so exzessiv Aktionen auf die Kunstfestivals einladen, fragten Kritiker angesichts der Flut an Performances in Athen, Kassel, Venedig und Münster?

Im Vergleich zur Vergangenheit sind die Bedingungen für den "Erweiterten Kunstbegriff" heute vollkommen andere. Wurden Beuys und seine Fluxus-Kollegen 1965, also zu einer Zeit, als Kunst vor allem mit dem Pinsel geschaffen wurde, als Pioniere einer neuen Freiheit gefeiert, so produzierte Chris Dercons dezidierter Wunsch, das Theater wieder an eine Vielfalt der Mittel zu erinnern, wie sie in der Kunst selbstverständlich sei, nur ungeduldige Langeweile. Denn Beuys' Begriff ist inzwischen eine inflationär gebrauchte Phrase, um sehr viel zur Kunst zu erklären. Und er legitimiert im "kreativen" Veranstaltungsbetrieb eine Haltung, die ständig nach "überraschenden" Kombinationen von Erlebniskonzepten sucht, um dem Marktdiktat des Neuen zu genügen.

Diese Konjunktur des Crossovers ist aber eher die Beuys'sche Hölle eines verfeuerten Kulturbegriffs. Bei dem kommerziellen Aufmerksamkeitsinferno geht es darum, kurzfristig zu imponieren, statt dauerhaft zu inspirieren. Und von dieser Zeiterscheinung grenzt sich Chris Dercons "Plattform"-Konzept für die Volksbühne leider nicht besonders scharf ab, wo gute Künstler mit immer neuen Darstellern ihre bekannten Konzepte in Reihe aufführen, wie es im Kunstbetrieb Usus ist.

War dieser Beginn an der Volksbühne also bereits ein kategorisches Scheitern, mit dem bewiesen ist, dass Performance und Sprechtheater so unlöslich sind wie Fett und Wasser? Oder trägt vielleicht doch eher der Theaterfilz in der Szene rund um die Stadttheater dazu bei, dass alles flüssige Denken aus dem Kunstbereich prinzipiell abgestoßen wird?

Zunächst ist es relativ unzweifelhaft, dass die Verführung zur Performance nur dann gelingen kann, wenn man sie vernünftig präsentiert. Im brüllenden Lärm von Foyer-Unterhaltungen leise sprechende Kinder auftreten zu lassen - wie bei Tino Sehgals "Ann Lee"-Performance zur Eröffnung der Volksbühne -, ist von derselben Blauäugigkeit wie die Idee, skeptische Theatergänger mit einer kurzen Inszenierung der Bühnen- und Lichtmittel in Erstaunen zu versetzen - ebenfalls dort von Sehgal inszeniert.

Es sind aber nicht nur solche Irrtümer über die Interessen des Publikums, die so viele Beobachter genervt auf Zwangseheschließungen von Kunstsparten reagieren lässt. Gerade in den Zeiten von "Anything goes" wächst die Sehnsucht nach Konzentration, die bei Sehgals Inszenierungen völlig missachtet wurde. Aber die wachsende Aversion gegen performative Formate ist auch praktisch begründet. Es erschließt sich so selten, warum ein Tanz nun im Museum stattfinden muss, ein Monolog im Vernissage-Palaver oder eine Performance im Foyer - und nicht dort, wo es optimale Bedingungen gäbe, damit alle Zuschauer es sehen und verstehen.

In diesem großen Sommer der Performances mit zwei Documenta-Standorten, der Venedig-Biennale und den Skulptur Projekten Münster wurde diese Zumutung im Kunstbereich viral: Die Aktionen fanden immer dann statt, wenn man nicht am Ort war. War man zufällig zum richtigen Zeitpunkt anwesend, fehlte an den "Venues" die Infrastruktur für eine optimale Präsentation, wie sie Theater in Jahrhunderten perfekt erprobt haben. Und der ständige Durchgangsverkehr macht es meist unmöglich, einer komplexeren Darbietung konzentriert zu folgen. Was Documenta-Leiter Adam Szymczyk positiv das "Verwischen" von Grenzen nannte, empfand man als Besucher häufig eher als Verwässern von Standards.

Es gibt genügend Beispiele, wie Grenzüberschreitungen brillant funktionieren können

Dass theaterartige Darbietungen im Kunstraum trotzdem brillant funktionieren können, das hat Anne Imhof mit ihrer vierstündigen Performance "Faust" im Deutschen Pavillon in Venedig bewiesen. Allerdings wurde diese düstere Monumental-Choreografie auch extrem aufwendig produziert. Das Einziehen eines gläsernen Zwischenbodens zählte dazu ebenso wie die Beherrschung der schwierigen Hallenakustik und die inszenatorische Bearbeitung, die bewirkte, dass viele Zuschauer trotz des Durchgangsverkehrs freiwillig Stunden dort blieben. Und in der wichtigsten Schnittstelle zwischen Schauspiel und Kunst, dem Video, finden sich nicht nur packende Arbeiten in großer Zahl, sondern auch diverse, die sich intelligent mit dem realen Raum der Darbietung beschäftigen: Julian Rosefeldts Installation "Manifesto" etwa, bei der Cate Blanchett in zwölf parallel laufenden Kurzfilmen Künstlermanifeste "spielt", die sich in einem Moment akustisch verbinden. Das wurde in der Münchner Villa Stuck gefeiert und ist jetzt sogar als Kinofilm zu sehen.

Umgekehrt gibt es im deutschen Theaterbetrieb Regisseure wie Ersan Mondtag, der stark von der bildenden Kunst inspiriert ist, Bühnenstücke inszeniert, die in großen Teilen an Performances erinnern, und der dann eben auch mal eine ganze Kunstausstellung inszeniert ("I am a Problem" im MMK Frankfurt), weil für ihn die Grenzen zwischen Kunst, Performance und Sprechtheater fließend sind. Zahlreiche freie Gruppen wie Rimini Protokoll, She She Pop oder Signa, aber auch Einzelkünstler wie Rabih Mroué, Milo Rau oder Ragnar Kjartansson wechseln unverkrampft zwischen Bühnen, Festivals und Kunsträumen, weil sie formale Begrenzungen als beengend empfinden.

Und sie folgen auf berühmte Grenzgänger wie Christoph Schlingensief, Robert Wilson, William Forsythe oder Einar Schleef, die wiederum in einer langen Traditionslinie stehen bis mindestens zurück zu Malewitschs Gesamtkunstwerks-Oper "Sieg über die Sonne" von 1913 und zu Dada. Tatsächlich war es schon immer schier unmöglich, die künstliche Aufteilung der Performing Arts in Kunst, Tanz und Theater begrifflich einleuchtend zu fassen. Und seit Performer auch mit Texten arbeiten und Stadttheater Stücke ohne Worte aufführen (also spätestens seit den Sechzigerjahren), bleibt als Hilfskategorie eigentlich nur übrig: Theater findet im Theater statt, Performance woanders. Und das hilft niemandem weiter.

Es spricht also nichts grundsätzlich für die Ablehnung des "Erweiterten Kunstbegriffs", solange sich dieser in Qualität und verständiger Präsentation äußert. Ernsthaft würde kaum ein Verantwortlicher die Bühne noch als exklusive Heimat des Textdramas bezeichnen. Nach Jahrzehnten postdramatischer Erneuerung kann der Streit höchstens darüber sinnvoll geführt werden, ob für die Netflix-Generation das geschriebene Drama das Kerngeschäft der Bühnen bleiben sollte.

Dercons didaktische Performance-Eröffnung ging unter anderem so daneben, weil er die Beharrungskräfte im Publikum überschätzt, den Qualitätsvorteil des Theatermodells dagegen missachtet. Dieser ist das feste Ensemble aus Schauspielern und kompetenten Mitarbeitern. Nur, wenn man daraus Innovationen entwickelt und nicht im Fahrtwind der Konzepte, wird das Theater ein Ort bleiben, wo der "Erweiterte Kunstbegriff" weiter Sinn stiftet. Ansonsten endet der tote Hase als tote Hose.

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Quelle:
SZ vom 25.11.2017
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