Süddeutsche Zeitung

Kulturbeziehungen:Über Grenzen hinweg

Zuzana Jürgens, die neue Geschäftsführerin des Adalbert Stifter Vereins, will den deutsch-tschechischen Kulturaustausch fördern - und auch jüngere Generationen einbeziehen

Von Antje Weber

Deutlicher kann man einen Umbruch nicht vor Augen führen. Wer vor dem Gasteig in die Hochstraße einbiegt, sieht rechts eine Baustelle. Eine große Baustelle. Zwischen Gerüsten und Containern hängt an einer schmutziggelben Fassade zwar noch ein roter Schriftzug: "Sudetendeutsches Haus". Wo aber ist der Eingang? Doch da nähert sich bereits Zuzana Jürgens und führt über einen Noteingang und staubige Treppen hoch in den dritten Stock, zum Adalbert Stifter Verein.

Auch hier stehen die Zeichen auf Umbruch. Aber nicht nur, weil die Mitarbeiter des Vereins, der im Sudetendeutschen Haus eingemietet ist, ständig von Hämmern und Bohren gestört werden; das wird übrigens noch eine Weile so bleiben, denn neben dem Umbau entsteht hier als Neubau auch noch ein Sudetendeutsches Museum, und das wird frühestens im Frühjahr 2020 eröffnen. Nein, der Umbau beim Stifter-Verein hängt mit Menschen statt Mauern zusammen: Ende vergangenen Jahres ging Peter Becher in den Ruhestand, nach 33 Jahren als kenntnisreich engagierter Geschäftsführer. Seither führt Zuzana Jürgens die Geschäfte, anfangs in Teilzeit, seit April in Vollzeit; es ist ein stiller Übergang in lärmenden Zeiten.

Der Stifter-Verein hat damit eine sehr profilierte Leiterin gewonnen; später an diesem Tag, bei einer Lesung des tschechischen Schriftstellers Jáchym Topol, wird Katrin Lange vom Literaturhaus das einführend schön zusammenfassen. Denn auf dem Podium sitzt auch Zuzana Jürgens in einem lässigen T-Shirt, dessen tschechische Aufschrift man gerne verstehen würde. Sie ist als Übersetzerin engagiert; außerdem ist sie Moderatorin, Dozentin an der Ludwig-Maximilians-Universität, sie hat jüngst die Veranstaltungsreihe "Echo Leipzig in München" mitinitiiert und ist überhaupt, so Lange, "die große Kennerin der tschechischen Literatur in München".

Nun ist die geradlinig und unprätentiös wirkende Literaturwissenschaftlerin also auch noch Geschäftsführerin des Adalbert Stifter Vereins. Was den Namensgeber betrifft, sagt Jürgens: "Wir haben ihn natürlich im Blick", nicht zuletzt organisiert der Verein jährlich Studienreisen auf Stifters Spuren. Der Schriftsteller stehe schließlich "emblematisch für jemanden, der sich in beiden Kulturen heimisch fühlt". Doch, und das muss man sich angesichts des irreführenden Namens immer wieder klarmachen: "Die Aufgabe des Vereins war es nie, sich mit seinem Werk zu beschäftigen."

Was man ebenfalls immer wieder betonen muss: Dieser Verein transportiert mitnichten revanchistische Ideen, auch wenn eine von ihm herausgegebene Zeitschrift den muffigen Titel Sudetenland trägt. Vielmehr ist der Verein seit mehr als 70 Jahren "eine der ältesten Institutionen im Feld der Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen", so Jürgens, und "setzt sich dezidiert für das deutsch-böhmische Erbe ein". Dabei haben sich die Schwerpunkte der staatlich finanzierten Institution natürlich schon gewandelt. Zu Beginn unterstützte man die kulturelle Integration von Vertriebenen, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 dann tschechische Emigranten. Unter der jahrzehntelangen Leitung der Kunsthistorikerin Johanna von Herzogenberg lag die Ausrichtung ansonsten zunächst vor allem auf der Kunst; sie initiierte die Ostdeutsche Galerie in Regensburg mit. Unter dem Germanisten und Historiker Peter Becher wurden literatur- und kulturwissenschaftliche Aspekte wichtiger, "was den Verein bis heute prägt", wie Jürgens sagt. Überhaupt sei es eine wichtige Aufgabe des Vereins, "germanobohemistische Studien" zu fördern und Publikationen wie etwa ein "Handbuch zur deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder" herauszugeben.

Dass Zuzana Jürgens das gut im Blick hat, erstaunt nicht: Die Pragerin, 1975 geboren, studierte selbst Bohemistik. Nach und nach kam sie dabei immer mehr mit der deutschsprachigen Literatur in Kontakt; unter anderem promovierte sie über den Literaturkritiker und Verleger Bedřich Fučík, der in den Dreißigerjahren in Prag die Bücher von Thomas Mann, Oskar Maria Graf und Erich Maria Remarque herausgab. Über Stationen in Konstanz und Berlin kam Jürgens 2009 als Leiterin des Tschechischen Zentrums nach München. In all den Jahren sei ihr "der Austausch, das gemeinsame Wissen" immer wichtiger geworden, sagt sie, die sich auch von vielen "mitteleuropäischen Schicksalen" bewegen ließ. So übersetzte sie die Erinnerungen "Zwischen allen Lagern" des jüdischen böhmischen Autors Gerhard Scholten ins Tschechische, ein Buch über die "Zeit des Wahnsinns" zwischen 1944 bis 1947.

"Meine Großeltern kommen aus Böhmen": Diesen Satz hört Zuzana Jürgens oft

Auch die Stadt München selbst hat an diesem gewachsenen Interesse einen Anteil. "München hat etwas Besonderes", sagt Jürgens, "es ist die Stadt, in der sich das Deutsche, das Sudetendeutsche und das Tschechische nach wie vor trifft." Ganz so lebendig wie vor 1989, als sich hier die Dissidenten sammelten, ist die Szene zwar nicht mehr; Radio Free Europe ist längst weggezogen, die letzten böhmischen Restaurants haben zugemacht: "Es hat sich verändert. Das Bewusstsein und das Gemeinsame ist nach wie vor da - aber anders." So sei es zum Beispiel schwierig, neben einer festen Szene von Interessierten neues Publikum zu gewinnen, sagt Jürgens. Dabei ist es ihr wichtig, dass der Stifter-Verein für das grenzüberschreitend Gemeinsame steht; bei einem Abend mit den Autoren Martin Becker, Jaroslav Rudiš und Tereza Semotamová will man darüber am 14. Mai im Muffatcafé diskutieren.

Denn viele Themen aus der gemeinsamen Geschichte seien doch hochaktuell: "Migration, Integration, Heimat und der Verlust von Heimat, zwei- und überhaupt mehrsprachige Kultur" - all dies will Jürgens künftig noch stärker in den Blick rücken, immer mit dem Ziel von "Versöhnung und Verständigung". Ganz im Sinne eines Stifter-Satzes also, der auf der Vereins-Webseite prangt: "Der Standpunkt der Kunst eines Volkes ist immer der Standpunkt seiner Menschlichkeit."

Konkrete Projekte mag Jürgens noch nicht nennen, dafür sei es noch zu früh. Doch ein Thema interessiert sie sehr: Wenn sie erzähle, dass sie aus Prag stamme, höre sie immer wieder den Satz: "Meine Großeltern kommen aus Böhmen." Das fasziniert sie: "Die Generation der Zeitzeugen verschwindet ja leider langsam. Aber die zweite und dritte Generation - wie geht man in deren Familien mit der Geschichte um?" Mit diesem Wissen um die Verbindungen über die Grenzen hinweg sei bisher zuwenig gearbeitet worden. Dabei könne man darüber doch Themen wie Heimat und Herkunft "spürbar machen".

In Tschechien interessiert sich eine jüngere Generation seit einiger Zeit verstärkt für die deutschböhmische Vergangenheit. Autoren wie Jaromír Typlt, Jaroslav Rudiš, Kateřina Tučková und Alena Zemančíková schreiben darüber, und auch eine junge Dokumentarfilmerin wie Rozálie Kohoutová wolle sich, so Jürgens, "mit den Leerstellen nicht zufriedengeben". Denn bei den tschechischen Kulturschaffenden gebe es zwar nicht die Erfahrung der Vertreibung, "doch die Erfahrung von einem leeren Raum - als läge da etwas in der Luft, das spürbar ist, aber nicht sichtbar".

Und auf deutscher Seite? Das Interesse am Nachbarn scheint noch nicht ganz so groß zu sein. Liegt es nur an der Sprache? "Die Kultur ist eigentlich nicht fremd", sagt Jürgens, "die Bayern und die Tschechen verbindet sehr viel." Oder spielt dabei eine Rolle, dass man von einer kleinen, sozusagen postkolonialen Kultur, wie es der Germanist Jurko Prochasko kürzlich auf einer Tagung in Karlsbad formulierte, in einiger Überheblichkeit nicht so viel erwartet? Wahrscheinlich, sagt Jürgens, sei es aber auch einfach "das Ergebnis von 40 Jahren Eiserner Vorhang": Man war es nicht gewohnt, in den Osten zu schauen. "Das ändert sich aber", glaubt Zusana Jürgens. Es gebe bereits so viele grenzüberschreitende Projekte und Kontakte: "Da gibt es Hoffnung - und wahnsinnig viel Potenzial."

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SZ vom 16.04.2019
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