Kultur und Technik:Alle sollen so zur Kunst kommen

Kultur und Technik: Jeder Kronleuchter wird von den Google-Kameras bis zum letzten Kristall erfasst: Blick in den Spiegelsaal von Versailles.

Jeder Kronleuchter wird von den Google-Kameras bis zum letzten Kristall erfasst: Blick in den Spiegelsaal von Versailles.

(Foto: Jacques Brinon/AP)

Das Google Cultural Institute digitalisiert Kunst, Musik und Theater. Das Fazit: Wow!

Von Andrian Kreye

Die Frage klingt wie eine Kurzgeschichte des Science-Fiction-Schriftstellers Philip K. Dick: Haben Algorithmen einen Kulturbegriff? Die kurze Antwort darauf ist: ja. Man findet sie, wenn man sich in das labyrinthische Google Cultural Institute begibt.

In der Wirklichkeit residiert das Kulturinstitut des Digitalkonzerns in einem schnörkeligen Prachtbau im Arrondissement de l'Opéra von Paris. Wobei sich dort nur der Maschinenraum jenes Mammutprojekts befindet, das vor sechs Jahren damit begonnen hat, die Weltkultur zu vernetzen. Das eigentliche Institut residiert im Internet unter der Adresse www.google.com/culturalinstitute/beta/.

Amit Sood hat sich dieses Institut ausgedacht, ein Mittdreißiger aus dem indischen Mumbai. Er spricht mit der leicht gebremsten Euphorie eines Wissenschaftlers, der sich ständig bewusst ist, dass er viel zu viel Wissen dem Laien sehr viel einfacher erklären muss, als es ihm lieb ist. Es hilft, wenn man sich zuvor auf die Arbeit seines Instituts eingelassen hat.

Jeder Pinselstrich von van Goghs "Sternennacht" lässt sich nun mit dem bloßen Auge sezieren

Betrachtet man Algorithmen dabei zur Abwechslung mal als Freunde, diese übergriffigen Wesen aus Mathematik und Computerbefehlen, die jede nur erdenkliche Lebensform in Datenpakete verwandeln und den Menschen dabei oft besser kennen als er sich selbst, landet man beim zentralen Kulturbegriff des Internets. Der stammt, wie so vieles im Wertekanon der digitalen Kultur, aus der Zeit der psychedelischen Experimente. Seit einiger Zeit schon wird er von der sogenannten Netzgemeinde mit dem Titel des ersten Kapitels von "Alice im Wunderland" beschrieben: "Down the rabbit hole". Hinunter in den Kaninchenbau. Die Hippies bezeichneten damit ihre Drogenerlebnisse, bei denen Chemie Gedankenströme in das Flussdelta des Geistes katapultierte, in dem man sich leicht verirren, aber auch auf immer neue Überraschungen stoßen konnte.

Im Kaninchenbau des Videoportals Youtube kann es beispielsweise passieren, dass man sich eine Konzertaufnahme von, sagen wir mal, dem Jazzpianisten Thelonious Monk ansieht und dann zwei Stunden später bei dem wunderbaren Video landet, das der Illustrator Christoph Niemann zu einem Radiointerview mit dem Kinderbuchautor Maurice Sendak gezeichnet hat. All die Querverbindungen und Gedankensprünge, die zwischen diesen beiden scheinbar zusammenhangslosen Punkten liegen, hat der Algorithmus aus dem Kopf des Nutzers und dem Welterbe der Videokultur herausgekitzelt. Es liegt eine Kraft in diesem Sog, die einen in neue Welten schleudern kann.

Youtube gehört seit dem Herbst 2006 zu Google. Seither hat der Konzern aus dem Videoportal auch deswegen den Marktführer gemacht, weil es den KaninchenbauEffekt perfektionierte. Das Google Kulturinstitut funktioniert ähnlich. Vereinfacht beschrieben, ist es ein Verbund aus mehr als eintausend Kulturinstitutionen, die von Museen und Archiven bis hin zu Konzerthallen und Modewochen reichen.

Virtuelle Spaziergänge durch Versailles, indonesische Tempel, die Elbphilharmonie

Erwartbar sind die abfotografierten Werke aus den Museen und Instituten. Wobei das mit dem Erwartbaren bei mehr als sechs Millionen Einzelstücken relativ ist. Und zum anderen schon in der einfachsten Anwendung verblüffende Effekte erzeugt. Unter dem Stichwort Vincent van Gogh finden sich dann zum Beispiel "Das Schlafzimmer" in allen drei Versionen, die sonst über Museen in Amsterdam, Paris und Chicago verteilt sind. Oder man klickt sich in die "Sternennacht", bis man jeden Pinselstrich, jeden Riss in der Ölfarbe erkennt, als habe man eine Elektronenlupe mit ins Museum gebracht.

Man kann aber auch virtuelle Spaziergänge durch Versailles, den Prambanan-Tempel in Indonesien oder über Christos schwimmende Stege auf dem Iseosee unternehmen (die in der Wirklichkeit längst abgebaut sind). Es scheint fast, als sei das Institut allgegenwärtig. Selbst bei der Eröffnung der Elbphilharmonie klemmte kaum bemerkbar eine Virtual-Reality- Kamera von Google über dem Orchestergraben.

Alle, wirklich alle sollen über das Institut zur Kunst kommen

All das wäre die erste Windung des Kaninchenbaus, in der man sich noch zurechtfindet. Wie die Algorithmen Kultur verstehen, erfährt man in der Abteilung Experimente. Da haben die Ingenieure von Google die selbstlernenden künstlichen Intelligenzen auf die Kulturgeschichte losgelassen. Da stellen sich auch die psychedelischen Effekte ein.

Man kann beispielsweise mit der Funktion "Big Bang" so etwas wie einen kulturellen Urknall erzeugen, bei dem Millionen Kunstwerke als Lichtpunkte in den Bildschirm explodieren und sich dann zu Wolken und Datenlandschaften formieren, die ihren Anfang in der Venus von Berekhat Ram aus dem Jahr 223 000 vor Christus nehmen und mit aktuellen Arbeiten von Douglas Coupland und mexikanischen Straßenkünstlern aufhören. Man kann aber auch unter 4000 Stichworten "blau" auswählen und in einer Wolke blauer Bilder und Skulpturen landen. Da ist der Kulturbegriff des Algorithmus: Alles kann Kontext sein. Das kunsthistorisch etwas unzulängliche Fazit ist dann: Wow!

Wow ist im Englischen übrigens ein Verb und genau das verwendet Amit Sood, wenn er den Impuls seines Instituts beschreiben will. "We want to wow them." Das "them" will er dabei als Ausdruck eines radikalen Demokratiebegriffes verstanden wissen. Alle, wirklich alle sollen über das Institut zur Kunst kommen. Und gerade deswegen will er die Kontextwolken und -linien, die das Institut da erzeugt, auch nicht akademisch verstehen.

"Ich könnte meine Arbeit nicht machen, wenn es nur um Marketing ginge."

Zum einen sind sie eben nicht von Kuratoren und Wissenschaftlern geschaffen. Die suchen zwar die Werke aus, die in den digitalen Fundus eingehen. Die Querverbindungen aber schaffen die Algorithmen, die seit Beginn des Instituts mithilfe des Maschinenlernens die Kulturgeschichte erfassen. Den akademischen Ansatz fände er viel zu vermessen: "Da gibt es schon längst grandiose Werkzeuge. Ich will ja nicht mal die Funktion des Museums infrage stellen, das bestimmt, was Kunst ist und was nicht." Nur die traditionelle Hierarchie der Kulturräume will er nicht gelten lassen: "Ich wollte von Anfang an, dass ein Museum aus Pakistan gleichberechtigt neben dem Guggenheim erscheint."

Für die Institutionen, die ihre Bilder herzeigen, ist das Risiko gering

Die Grenzen der digitalen Kunst kennt er. "Natürlich ist ein Museumsbesuch unersetzlich. Aber wir vergessen, dass über die Hälfte der Menschen weder die Gelegenheit noch die Mittel hat, ein Museum zu besuchen." Sood spricht aus Erfahrung. Zu Beginn seiner Arbeit hätten ihm Freunde und Kollegen in Europa vorgeworfen, er verwässere die Weltkultur. Man könnte doch einfach ins Museum gehen. "Ich bin in Bombay aufgewachsen" sagt er. "Ich konnte während meiner Kindheit nicht einfach mal eben ins Museum gehen."

Begonnen hat das Kulturinstitut bei Google als eines jener "Google moonshot projects", frei nach John F. Kennedys größenwahnsinniger Mondflugrede von 1961. Jeder Mitarbeiter darf bei Google 20 Prozent seiner Zeit für so ein Hirngespinst verwenden. Scheitern wird ermutigt. Amit Sood scheiterte nicht. Er wurde vom damaligen CEO Eric Schmidt sogar angetrieben, das Institut zu skalieren. So wurde aus einem bescheidenen Digitalisierungsprojekt für 17 europäische und amerikanische Museen das Experiment, Algorithmen auf die Weltkultur anzusetzen. Für die Institutionen, die seine Partner werden, ist das Risiko gering. Nicht nur die Urheberrechte, auch die von Google erstellten Dateien gehören ihnen. Google lizensiert sie nur.

Und der Konzern macht das wirklich aus reiner Menschenfreundlichkeit? Sood kennt die Frage. "Zynisch betrachtet, passt das Kulturinstitut natürlich in die Ingenieurs-Philosophie der Firma, alles, wirklich alles zu erfassen und zugänglich zu machen", sagt er. Der Imagegewinn sei auch beträchtlich. Für ihn selbst spiele das aber keine Rolle. "Ich könnte meine Arbeit nicht machen, wenn es nur um Marketing ginge." Nein, man muss ihm das jetzt einfach mal glauben. Amit Sood will Kunst für alle. Auch für die Algorithmen, die den Sog in den Kaninchenbau erzeugen.

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