Kultur:Noch sind wir diesseits der Matrix

Kultur: Rosa Menkman arbeitete 2017 in dem Werk "DCT:SYPHONING. The 1000000th (64th) Interval" mit einer Bildkompressionstechnik.

Rosa Menkman arbeitete 2017 in dem Werk "DCT:SYPHONING. The 1000000th (64th) Interval" mit einer Bildkompressionstechnik.

(Foto: Rosa Menkman)

Künstler erschaffen immer komplexere virtuelle Welten. Die Betrachter sollen in immersive Zustände versetzt werden, wie eine Veranstaltung in der Platform deutlich macht

Von Evelyn Vogel

Der Mensch gibt sich gern der Illusion hin. Denn was der Mensch wahr haben möchte, hält er auch für wahr, erkannte schon Demosthenes vor mehr als 2000 Jahren. Das machen sich Künstler seit jeher zu Nutze, indem sie mit der Wahrnehmung des Betrachters spielen, ihm etwas vortäuschen. Das Theater, der Tanz kreiert eine andere Welt. Die illusionistische Malerei des Trompe-l'œil ließ schon vor vielen Jahrhunderten Tiefe entstehen, wo nur Flachware vorhanden war. Fotografie und Film trieben das Spiel mit der Illusion voran. Die Gamer erschaffen immer realer wirkende Welten, durch die sich die Spieler interaktiv bewegen.

Auch die Bildende Kunst hat die Virtual Reality, kurz VR, und die noch komplexeren Welten der AR und MR, der erweiterten Augmented und Mixed Reality, längst für sich entdeckt. Einen wunderbaren Überblick über die künstlerischen Möglichkeiten seit der Antike bot die Ausstellung "Lust der Täuschung" in der Kunsthalle München im vergangenen Jahr. Dort konnte man in Laurie Andersons virtuell begehbarem Raum "Chalkroom" oder bei "Richie's Plank Experience" der Gruppe Toast VR erleben, was es bedeutet, wenn die optische Wahrnehmung die Sinne vollständig vereinnahmt.

Das Schlagwort der Stunde zu allen VR-Varianten, die auch unter XR-Kunst zusammengefasst werden, heißt "aktive Immersion". Auch wenn Immersion schon vor langer Zeit illusorische Zustände beschrieb, so kennzeichnet es im Zuge der immer perfekteren Technik von VR und AR das vollständige und interaktive Eintauchen in eine virtuelle Welt, die nicht mehr aus der Distanz, sondern als "echt" wahrgenommen wird. Dafür reicht eine visuelle Täuschung allein nicht mehr aus. Hier geht es um alle Sinne, die angesprochen werden: neben dem Sehen auch das Hören, Riechen und Fühlen. Immersive Zustände können so weit gehen, dass sie vom Verstand nicht mehr kontrollierbar sind. Die virtuelle Realität ersetzt für den Anwender - zumindest zeitweilig - die reale. Die Vorstellung, wie weit das gehen kann, bringen Filmschaffende immer wieder auf die Leinwand.

Was aber bedeutet das für die Kunst, die sich nach wie vor zwischen analogen und digitalen Medien bewegt? Was reizt Künstler, virtuelle Welten zu erschaffen? Welche Verantwortung haben sie gegenüber den Nutzern, die sich ihr aussetzen? Wie können virtuelle künstlerische Welten im Ausstellungsraum dargestellt werden? Und gelingt es, dort immersive Zustände zu erzeugen? Mit Fragen wie diesen beschäftigte sich eine Diskussion in der Platform, an der die beiden Medienkünstlerinnen Evelyn Hriberšek und Gretta Louw aus Berlin und München, die Leiterin des Digital Art Space in München, Karin Wimmer, und Lívia Nolasco-Rózsás, Kuratorin am ZKM Karlsruhe, teilnahmen.

Wie sich die Ausstellungspraxis verändert hat, riss Lívia Nolasco-Rózsás an, erwähnte Präsentationen mit einzelnen, auf Tischen aufgebauten Bildschirmen wie bei der Documenta X von 1997 bis hin zu Formaten wie der begehbaren Installation "Sensefactory", die kürzlich in München erlebbar war. Wer als Kunstrezipient aber an Virtual Reality denkt, denkt doch vor allem an diese schweren Brillen, die einen visuell vom Rest der Welt abschotten - und an lange Warteschlangen, um in die virtuelle Welt einzutauchen. Auch bei der interaktiven Arbeit "Endodrome" von Dominique Gonzalez-Foerster, derzeit auf der Biennale in Venedig zu erleben, kommt man ohne die Brillen nicht aus. Aber mit was für einem Erlebnis wird man belohnt! AR-Arbeiten wie "Stack overflow" der Münchner Künstlerin Barbara Herold, derzeit noch am Forum Münchner Freiheit installiert, zaubern via App künstliche, die Realität überlappende Welten aufs Smartphone und man kommt mit einem mobilen Gerät in der Hand und Kopfhörern aus.

Noch vielschichtiger sind die mehrfach ausgezeichneten Arbeiten von Evelyn Hriberšek wie "Orpheus" und "Eurydike", die tatsächlich als bewusstseinsverändernde Erfahrungen angelegt sind. Auch deshalb spricht sich Hriberšek für einen hohen Verantwortungsgrad von XR-Künstlern aus. Und Gretta Louw inszeniert ebenso ganze Räume als virtuelle Welten. Was erwartet uns noch? Werden wir dereinst - wie in der Filmtrilogie "Matrix" - die perfekte Simulation der Realität nicht mehr von der echten unterscheiden können? Und vor allem: Wollen wir das überhaupt?

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