Kultur in der Pandemie:Gähnende Leere

Kultur in der Pandemie: Marcel Duchamps "Fountain"-Signatur, in einem Lokal in Berlin Mitte exakt nachgezeichnet.

Marcel Duchamps "Fountain"-Signatur, in einem Lokal in Berlin Mitte exakt nachgezeichnet.

(Foto: LMUE)

In Berlin erinnert ein Marcel-Duchamp-Zitat an einem öffentlichen Urinal an die Zeit, in der die Kunst unbedingt raus wollte aus den Museen. Doch in der Pandemie zeigt sich, wie dringend die Kunst ihre Räume braucht.

Von Lothar Müller

Zu den Effekten der Corona-Pandemie gehört, dass in den Toiletten der gastronomischen Betriebe auch die Pissoirs strenge Abstandsregeln einhalten müssen. Manche wurden mit Bändern verhüllt, die an Absperrungen auf Baustellen erinnern, manchen wurden dünne Auflagen aufgeklebt. Die Trostlosigkeit, die sie ausstrahlten, brachte es mit sich, dass ihren Nachbarn, den wenigen unverhüllten Pissoirs, eine gewisse Aura von Restfreiheit zuzuwachsen schien.

Am letzten Wochenende vor der aktuellen Schließung der Gastronomie konnte man in einem Restaurant am Volkspark am Weinberg in Berlin-Mitte auf ein abgesperrtes Pissoir treffen, dem ein Anonymus durch entschlossene Ästhetisierung zu Hilfe gekommen war. Er hatte unter den gedruckten Abdeckungstext, der die vorübergehende Schließung mitteilte und sich samt Smiley auf ein späteres Wiedersehen freute, den geradezu plagiathaft exakt ausgeführten Schriftzug "R. Mutt" gesetzt, mit dem Marcel Duchamp das Allerweltsurinal signiert hatte, das 1917 unter dem Titel "Fountain" Furore machte. Die New Yorker Society of Independent Artists hatte es für ihre Jahresausstellung abgelehnt, es wurde dann aber doch von Alfred Stieglitz in seiner Galerie 291 gezeigt.

Duchamps Urinal war ein mächtiger Schub für die Aufwertung der Objets trouvés und Readymades in der bildenden Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Es sorgte en passant dafür, dass Installationen fortan nicht mehr nur von der Sanitärindustrie geliefert wurden, sondern auch in Gestalt moderner Skulpturen. Der Anonymus vom Volkspark am Weinberg in Berlin-Mitte - vielleicht war er ein Kurator - konnte den Erfolg des Modells voraussetzen. Hatte nicht schon Duchamp Repliken autorisiert? Vor allem aber konnte er den Auszug der Objets trouvés aus den Galerien voraussetzen. Die gegen Widerstände erfolgreiche Platzierung eines Urinals in einer Galerie ist nur die Vorstufe der Signierung eines Pissoirs im öffentlichen Stadtraum. Das Objet trouvé zweiter Ordnung verwandelt die Restauranttoilette in eine temporäre Galerie.

So tröstlich Straßenkonzerte sind - die Akteure bleiben auf Theater und Konzertsäle angewiesen

Man könnte die Energien, die in Duchamps "Fountain" eingegangen sind und ihren Erfolg befördert haben, Exodus-Energien nennen. Das gelobte Land vieler Akteure der modernen Kunst lag jenseits der Galerien, jenseits der Museen, jenseits der Rahmen, die das Tafelbild auch dann noch umschlossen, wenn im Bildraum selbst alle traditionellen Elemente explodierten oder in der Abstraktion verschwanden. Den Rahmen verlassen hieß, das Bündnis mit den Zeitkünsten zu suchen, das Ereignis, die Geste, die Performance.

Und irgendwann kam der Installateur und Performancekünstler Joseph Beuys und machte die gesamte Gesellschaft zum Kunstraum ohne Kunstanspruch. Jeder ist ein Künstler, das meinte nicht, jeder solle Maler, Bildhauer sein, die Gesellschaft selbst sollte durch die Individuen geformt werden wie plastisches Material. Was Beuys als "soziale Plastik" oder "soziale Skulptur" propagierte, war an das Konzept "direkte Demokratie" gekoppelt. Es war ein Fluchtpunkt der Exodus-Energien, wie später die Aktionen von Christoph Schlingensief.

Was wird in der Corona-Krise aus diesen Energien? Was aus der Euphorie des Auszugs, wenn Museen und Galerien ohnehin geschlossen sind? Geschlossen ist ja auch die temporäre Duchamp-Galerie am Weinberg in Berlin. Aber nicht der Stadtraum und das öffentliche Transportwesen. Die "Street Art" hat eine gewisse Corona-Resistenz. Der Künstler Banksy zeigte im Juli auf Instagram Videos aus der Londoner U-Bahn, mit den auf Bahnhofswänden gesprühten Botschaften "I get lockdown" und "I get back up again". Und kürzlich ging die Meldung durch die Presse, Banksy habe ein Mädchen in Schwarz-Weiß, das mit einem Fahrradreifen Hula-Hoop tanzt, auf der Fassade eines Beauty Salons in Nottingham gesprüht und so die Eigentümerin unfreiwillig zur Galeristin gemacht.

Es gab schon im ersten Lockdown wunderbare Straßenkonzerte, bei denen professionelle Tenöre und Sopranistinnen von ihren Balkonen herab mit Opernarien ein Publikum bezauberten, das sich leicht verstreut auf Straße und Bürgersteig versammelt hatte. So tröstlich solche Lebenszeichen sind, sie können das Unbehagen kaum mindern, das in Zeiten eines Lockdowns alle Akteure erfasst, die auf die Anwesenheit des Publikums in Museen, Galerien, Theatern, Konzertsälen angewiesen sind.

Während des ersten Lockdowns entstand ein digitaler Adventismus

Lockdown heißt Anwesenheitsentzug, Raumentzug. In die "soziale Plastik", die Beuys im Sinn hatte, flossen utopisch-euphorische Exodus-Energien ein. Leicht ließe sich die Gesellschaft unter Lockdown-Bedingungen als von administrativen Maßnahmen geformte Negativvariante einer "sozialen Skulptur" beschreiben. In der Kompensation des Raum- und Anwesenheitsentzugs durch digitale Formate ist sie weit vorangekommen.

Die aktuellen Exodus-Energien fließen in den Auszug aus der analogen in die digitale Welt. Dabei ist während des ersten Lockdowns ein digitaler Adventismus entstanden, der die Verstetigung der aus der Corona-Not geborenen Surrogatformate anpries. Es hat natürlich seinen Reiz, wenn die Ausdünnung des physisch anwesenden Publikums in einem Konzertsaal oder bei einer Lesung von potenziell Tausenden Zugeschalteten flankiert wird, die aus der Ferne an der ausgedünnten Veranstaltung teilnehmen.

Aber nun, da sich ein auf die Dauer immer anstrengenderes Corona-Jahr dem Ende zuneigt, dürfte in diesem zweiten Teil-Lockdown kaum jemand den erzwungenen Auszug der Künste aus ihren analogen Räumen als euphorisch erleben. Je chronischer die Einschränkungen, desto stärker schlägt ihr Verlust zu Buche. Ökonomisch ohnehin, aber auch als Sorge um das Format selbst. Die abgesagte Frankfurter Buchmesse war stolz auf die digitalen Publikums- und Branchenveranstaltungen. Aber zugleich beklagte sie Tag für Tag die sozialen Leerstellen, die durch die Absage entstanden, und beschwor die Rückkehr in die Messehallen im kommenden Jahr. Die digitale Messe darf ja nicht so erfolgreich sein, dass sie die physische erübrigt.

Das Muster, das sich in solchen Gratwanderungen abzeichnet, ist die Ellipse mit zwei Brennpunkten. Am einen Brennpunkt treibt die krisenbedingte Anwesenheitsverknappung den allseits konstatierten Digitalisierungsschub voran. Am anderen konzentrieren sich die Energien, die auf die Rückkehr in die geschlossenen physischen Räume drängen. Es bleibt den Künsten derzeit gar nichts anderes übrig, als ihre digitale Präsenz voranzutreiben. Aber es hilft ihnen auf Dauer nicht, alle Energien darauf zu konzentrieren. Ebenso unvermeidlich sind sie zur Verteidigung ihrer physischen Räume gezwungen, zum Herstellen einer öffentlichen Debatte, in der die Kuratoren, Intendanten, Konzertveranstalter jeden unzugänglichen Quadratmeter unter Legitimationsdruck stellen, in dem sich mit guten Gründen, weil guten Hygienekonzepten, Publikum unterbringen ließe.

Die Kultur ist immer noch von der Sezession geprägt, vom Überschreiten von Grenzen

Die Fotobände aus dem ersten Lockdown, die leere Straßen und leere Räume zeigen, sind nicht selten von suggestiver Schönheit. Aber zugleich gibt es die Umpolung der Exodus-Energien, den kulturellen Horror Vacui, den Schrecken der closed rooms. Wer, wie beim ersten Lockdown empfohlen, sich in die immer aufgeschobene Lektüre großer Romane geflüchtet hat, könnte mit der Sehnsucht zurückgekehrt sein, mit Charles Swann auf Reisen zu gehen und in den europäischen Museen die Vermeers zu besuchen. Und setzte nicht der Siegeszug der Exodus-Energien in der modernen Kunst seit je schon die Stabilität der Institutionen voraus, die sie hinter sich ließ (und oft zugleich als heimliches Ziel vor Augen hatte)? Längst hat auch die Straßenkunst ihre eigenen Museen.

Nach wie vor prägt die Rhetorik der Sezession, des Überschreitens von Grenzen, des Auszugs aus der Konvention et cetera die Programmhefte und Kataloge. Von der Kulturpolitik ist sie adoptiert worden. Nun ist die Selbstverständlichkeit dahin, mit der sich die Exodus-Rhetorik, das älteste Erbstück der heroischen Moderne, auf die Stabilität der Institutionen verlassen konnte, mit denen sie schon seit Jahrzehnten in friedlicher Koexistenz lebt.

Um die Vitalität des krisenbegünstigten Digitalisierungsschubs muss sich niemand Sorgen machen. Kuratoren oder Künstler, die en passant im öffentlichen Stadtraum Objets trouvés aufspüren, sind nach wie vor unterwegs.

Was fehlt, ist das Nicht-Exzentrische, der Gang durch die Gemäldegalerie an einem Regennachmittag, die Abonnementvorstellung im Stadttheater, der Abendvortrag in einer Akademie. Es fehlt all das, wovor die Aufbruchsbewegungen der ästhetischen Moderne in der beruhigenden Gewissheit flohen, dass durch ihre Sezessionsbewegungen kein Museum, kein Theater, kein Konzertsaal und keine Akademie verschwand. Eher kamen neue hinzu. Nun, wo sie der Lockdown geschlossen hat, sind diese Räume zum gelobten Land geworden.

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