Süddeutsche Zeitung

Kultur für alle:Jeder hat eine Stimme

Wenn Singen peinlich wird, dann verarmt eine ganze Kultur. Ein Projekt in Düsseldorf aber macht Mut und begeistert die Kinder.

Von Michael Stallknecht

"Guten Morgen, liebe Kinder der Hermann-Gmeiner-Schule!" Das sagt Ulrike Eitel nicht. Sondern sie singt es, auf einer Bühne. Und bemerkenswert konzentriert schallt es zurück: "Guten Morgen, Frau Eitel!" Dabei hatte bis eben noch ein ungeheures Tohuwabohu in der Düsseldorfer Tonhalle geherrscht. Schließlich sind hier mehr als eintausend Kinder aus drei Grundschulen versammelt, um gemeinsam zu singen.

Dass das Kinder zwischen sechs und zehn Jahren in der Schule tun, ist keineswegs mehr so selbstverständlich, wie man denken könnte. Zwar ist Singen nach wie vor Teil aller Lehrpläne, aber ausgebildete Musiklehrer finden sich nur in einer Minderheit der Grundschulen. Darum hängt viel davon ab, ob der Klassenlehrer gern singt oder nicht. Und dass viele Erwachsene sich heutzutage mit dem Singen schwertun, lehrt jeder Besuch einer Hochzeit oder eines Weihnachtsgottesdienstes. Laut zu singen, scheint den meisten Menschen irgendwie peinlich geworden.

Bei vielen dürfte das auch damit zu tun haben, dass sie es als Kinder kaum getan haben. Und vom Lernen der Notenschrift in den weiterführenden Schulen bleibt bei den meisten Menschen wenig hängen. Zu spüren bekommen das auch die vielen Laien-Ensembles. Kirchenchöre und Gesangvereine leiden unter Überalterung. Selbst die philharmonischen Chöre, die die großen symphonischen Werke singen dürfen, klagen über Nachwuchsmangel.

"Nicht immer nur schwätzen, sondern auch etwas tun", ist das Motto, mit dem Manfred Hill dagegen angehen will. Der 72-jährige ehemalige Chef einer Feuerlöscherfirma steht nicht nur zu seinem kräftigen rheinischen Akzent, er engagiert sich auch in vielfältiger Form für seine Stadt. Als Vorsitzender des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf vertritt er einen der ehrwürdigsten deutschen Laienchöre. Felix Mendelssohn-Bartholdy und Robert Schumann waren hier Musikdirektoren, im 19. Jahrhundert standen manchmal bis zu siebenhundert Sänger auf der Bühne.

Doch der Nachwuchsmangel macht sich auch hier bemerkbar. Aber Manfred Hill hat vor inzwischen zehn Jahren die "Singpause" ins Leben gerufen. Zweimal in der Woche gehen dabei professionelle Sänger in Grundschulen, um zwanzig Minuten mit den Kindern zu singen. Angefangen hat Hill mit fünf Schulen, inzwischen sind es 61 geworden. 13 400 Düsseldorfer Kinder nehmen an insgesamt 1160 "Singpausen" pro Woche teil. Das Konzept ist so erfolgreich, dass es Nachahmer von Niedersachsen bis Baden-Württemberg findet.

Wenn Singen den Leuten peinlich wird, verarmt eine ganze Kultur

Die Singpause entstand parallel zur Initiative "Je-Ki", die von der nordrhein-westfälischen Landesregierung intensiv gefördert wurde. Auch eine gute Idee - doch "Jedem Kind sein Instrument" gilt in vielerlei Hinsicht als fehleranfällig. An den meisten Orten stehen nicht genug Lehrer zur Verfügung, manchmal auch nicht genug Instrumente fürs häusliche Üben. Nur im Gruppenunterricht zu musizieren, bringt bei den meisten Instrumenten nicht sehr viel. Inzwischen hat man daraus gelernt und mit dem laufenden Schuljahr Je-Ki zu "JeKits" erweitert. Bei "Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen" spielen auch Formen des musikalischen Gestaltens wie Singen und Tanzen eine größere Rolle, die sich gut in der Gruppe betreiben lassen.

"Jedes Kind hat ein Instrument" ist denn auch einer der Merksätze von Manfred Hill: Eine Stimme hat nämlich erst mal jeder. Was noch nicht bedeutet, dass er auch weiß, wo "sie sitzt", wie die Sänger sagen. "Am Anfang können die meisten Kinder zwischen Rufen, Singen und Sprechen noch nicht richtig unterscheiden", sagt Marieddy Rossetto, künstlerische Leiterin der Singpause. "Aber schon nach ein paar Monaten beginnen sich die Stimmen zu runden." Mit Stimm- wie Gehörbildung beginnt die Singpause, bei der nach der sogenannten Ward-Methode unterrichtet wird.

Das von der amerikanischen Musikpädagogin Justine Bayard Ward (1879-1975) entwickelte System ordnet den Tönen der Dur-Tonleiter Zahlen oder Silben zu, die die Kinder in den Grundschulen bereits beherrschen. Solche Verfahren sind aus vielen Kulturen vertraut, auch bei der Erfindung der europäischen Musiknotation im Mittelalter spielten sie eine Rolle. Gleichzeitig zeigen die Kinder mit den Händen die Tonhöhen an, sodass die Stufen der Tonleiter im Körpergedächtnis gespeichert werden. Erst von da aus lernen sie, über Zwischenstufen, das Notensystem. Das erstaunliche Ergebnis: In der vierten Klasse können die meisten Kinder fließend Noten lesen und in Klang umsetzen - was heute sehr vielen Erwachsenen, denen man die Noten eines Weihnachtsliedes in die Hand drückt, eben nicht gelingt.

Noten stehen denn auch in dem Heft, das die Eltern und Sponsoren beim Abschlusskonzert in der Düsseldorfer Tonhalle bekommen. Das jährliche Ereignis sei für die Schulen wichtig, um die Motivation zwischendurch wachzuhalten, sagt Marieddy Rossetto. "Für die Erde singen wir", heißt das Motto in diesem Jahr; die Kinder singen Volkslieder aus verschiedenen Kulturen: "Und jetzt gang i ans Petersbrünnele" aus Österreich ebenso wie das russische "Sascha geizte mit den Worten" oder ein südamerikanisches "Un poquito cantas", dies sogar im spanischen Original. Dazu gibt es auch hier lustige Bewegungen, die beim Merken helfen. Beim englischen "Summer is acoming in" dürfen die Erwachsenen den begleitenden "Kuckuck" imitieren. Zur Mitte des Konzerts schalten die Lichttechniker den großen Sternenhimmel der Tonhalle dazu, der daran erinnert, dass Düsseldorfs wichtigster Konzertsaal einmal ein Planetarium war. Ein großes Oh und Ah geht durch den Raum.

Der gastgebende Intendant Michael Becker hält so ein "kindliches Erleben" für deutlich wichtiger als "Education". Die Tonhalle pflegt eine regelmäßige Aufbauarbeit gerade für die Jüngsten. Konzerte gibt es bereits - unter dem Titel "Ultraschall" - für die Ungeborenen, gefolgt von der Reihe "Himmelblau" für Babys. Das Modewort "Education" benutzt Becker dafür nicht, weil es ihm erst mal nicht darum geht, ob die Kleinen später für Haydn und Schönberg wiederkommen. "Wir wollen ein Gefühl dafür vermitteln, dass es einen Unterschied macht, ob man für Musik einen Knopf drückt oder sie selber macht."

Die Singpause passt da perfekt ins Profil. Auch deshalb schafft man Raum für die insgesamt sechzehn Abschlusskonzerte der 61 Schulen. So kommen auch Kinder in den zentralen Konzertsaal Düsseldorfs, die in der Peripherie leben und selten überhaupt in der Innenstadt sind. Die Tonhalle wird zum Bürgerzentrum. Der Verkehrsbund legt für die Abschlusskonzerte sogar Sonderfahrpläne an. Die Singpause hat damit eine hohe integrative Wirkung, gerade für soziale schwächere Familien. Auch Kinder mit Migrationshintergrund kommen durchs gemeinsame Singen leichter in den Klassenverband hinein. Entsprechend begeistert sind die Klassenlehrer und geben gern etwas von ihrer Unterrichtszeit ab.

"Die Singpause macht natürlich die Welt nicht besser", sagt Manfred Hill, "aber sie kann den Umgang der Kinder miteinander verbessern." Zum Abschluss des Konzerts steht denn auch eine echte Hymne an seine Stadt auf dem Programm: "Düsseldorf, du schöne Perle am Rhein". Und die Choreografie dazu? Es darf geschunkelt werden.

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Quelle:
SZ vom 13.05.2016
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