Favoriten der Woche:Herantasten an die Vergangenheit

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Noch durchschaubar: Der Gasometer in Berlin-Schöneberg soll innen zugebaut werden. (Foto: Frank Sorge/imago images)

Fünf Favoriten der Feuilleton-Redaktion: Der Gasometer, Harzers Celan-Gedichte, Sagmeisters wunderschöne Zahlen, Crazy Horse ohne Neil Young und Franco Violas Formakkorde.

Von SZ-Autorinnen

Berliner Gasometer

Lyonel Feininger ließ auf seinem Gemälde des Schöneberger Gasometers 1912 eine Dampflok dahindonnern. Alles Rauch, alles Stahl, dahinter der Schwung des waghalsig neumodischen Gerüsts, davor zwei Arbeiter im Blaumann, voller Staunen über die neue Zeit. Die Anwohner hassten den Gasometer, fürchteten Verschattung und Vergiftung, dann gewöhnten sie sich. Heute kämpfen sie für den Erhalt. Seit 1994 steht das Bauwerk unter Denkmalschutz. Die Gasbehälter im Inneren wurden durch eine Veranstaltungskuppel ersetzt, aus der Günther Jauch sendete. Vom Original - sichtbar in ganz Berlin - blieb einzig das Gerüst. Es liegt auf dem Euref-Campus, dem Gelände des "Europäischen Energieforums", und soll demnächst innen mit Büros bis knapp unter den Rand zugebaut werden. Denkmalschützer schlagen Alarm und setzten den Gasometer soeben auf die Rote Liste der bedrohten Bauwerke. Bitte dieses nicht auch noch! Sonja Zekri

Prozess einer Aneignung: "Paul Celan/Jens Harzer - Eine Annäherung" (Foto: speak low/speak low)

Jens Harzer liest Paul Celan

Gedichte von Paul Celan vorzutragen, ist kein Pappenstiel. Es braucht dafür Leseverständnis, lyrische Sprachkraft, ein Gespür. Der Schauspieler Jens Harzer mit seinem sensitiven Geist und seiner suggestiven Stimme scheint ideal dafür zu sein. Umso irritierter ist man zunächst, wenn er mit dem Papier raschelt und gleich das zweite Gedicht wiederholt, in Details nun anders betonend. Bis man kapiert, dass dies Prinzip ist. Hier geht es nicht um perfekte Rezitation und gültige Interpretation, sondern um ein Herantasten, Hineinlauschen, um einen Aneignungs- und Verständnisprozess. Fast so, als sei ein Schauspieler auf einer Leseprobe. Harzer macht gelegentlich auch Anmerkungen zu den Gedichten, gibt kleine Hinweise zur Entstehung, legt beim Lesen seine Schwierigkeiten offen, und wenn er zufrieden ist, sagt er leise, wie für sich selbst: "Okay."

"Eine Annäherung" heißt deshalb das Hörbuch, auf dem Jens Harzer Gedichte von Celan liest (Speak Low, 22 Euro; MP3-Download-Version 18 Euro). Ausgewählt hat sie in Abstimmung mit dem Schauspieler die Celan-Herausgeberin Barbara Wiedemann, und zwar unter bewusster Auslassung der berühmten "Todesfuge"; wie hier überhaupt der Holocaust-Überlebende Celan einmal nicht als der Dichter der Schoah, sondern mit einem breiteren Themenspektrum vorgestellt wird. "Ich bin groß, du bist das Küken, / Hihihimmel, sollst dich bücken" - auch das ist Celan (aus dem Gedicht "Abzählreime"). Oder: "Zahniger Zorn, / ich zätsche, / zundere, / zaibe" (das Gedicht trägt den Titel "Zrtsch").

Das Hörbuch versammelt auf zwei CDs 78 Gedichte aus allen Schaffensperioden des Dichters, aufgeteilt in sieben Themenblöcke wie Heimat, Liebe, Jüdischsein. Unter dem Rubrum "Genächtet" finden sich Gedichte, die von Celans psychischer Erkrankung künden, unter der Überschrift "Maifarben" solche, in denen er auf politisches Geschehen wie den Prager Frühling reagiert. Viele sind klangspektrale Rätselwerke, schmerzhaft dunkel, sprachschillernd schön. Harzer, dieser feinnervige Denk-Schauspieler, einer der besten des Gegenwartstheaters (und amtierender Ifflandring-Träger), fuchst sich in jedes einzelne hinein, will es wissen, will es kennen und können und nimmt notfalls dreimal Anlauf. "Mist!", entfährt es ihm schon mal, wenn er sich verspricht. Oder er leitet ein schwieriges Gedicht wie "Du sei wie du" mit den Worten ein: "Hier gibt's einiges zu erklären, Freunde." Er nimmt die Hürden mit zarter, geschmeidiger Stimme. "Boah, ist das traurig", sagt er einmal. Ja. Aber es ist auch zauberschön. Christine Dössel

Stefan Sagmeister im Video "Beautiful Numbers". (Foto: Stefan Sagmeister/Stefan Sagmeister)

Beautiful Numbers

Es sind nur viereinhalb Minuten Video, die aber machen sehr gute Laune. Man sieht den Grafikkünstler Stefan Sagmeister auf seinem Motorroller durch New York fahren, begleitet ihn ins Studio und in die Thomas Erben Gallery. Da erklärt er dann, was es mit den wunderschönen Zahlen auf sich hat, die seinem neuen Projekt den Namen gaben. Kindersterblichkeit, extreme Armut und Unterdrückung der Frauen? Runter. Weit runter. Diese Sorte statistischer Optimismus ist ein Geschichtsbild, das aus den Naturwissenschaften kommt. Kognitionsforscher Steven Pinker und Mediziner Hans Rosling schrieben damit Bestseller. Sagmeister hat Kunst daraus gemacht: Gemälde mit Statistikdiagrammen verfremdet, Teppiche sticken lassen, gemalt. Und das Video gedreht, von dem im Kopf bleibt: Fortschritt! Besser geht's nicht. Andrian Kreye

Die gleichnamige Debüt-LP von "Crazy Horse". (Foto: reprise/reprise)

Auch mal allein

Manche Bands sind nur im Zusammenklang mit einem legendären Solokünstler zu Ruhm gekommen, obwohl sie auch allein Größe hatten. Crazy Horse zum Beispiel kam nie wirklich von Neil Young und seinem zuversichtlichen Wehklagen los. Die Crazy-Horse-Männer stehen dabei für den Zupack-Rock, den Young schon mal an gutgelaunten wie wütenden Tagen anstimmt. Was für einen melancholischen Drive die Band auch allein erzeugen konnte, bewies sie aber schon ganz früh, 1971, kurz nach dem Beginn der Zusammenarbeit mit Young, "Crazy-Horse" hieß ihre Debütplatte, es folgten weitere, aber keine knüpfte an den Erfolg dieses ersten Albums an, das große Songs wie "I Don't Want to Talk About It " und "Dance, Dance, Dance" hervorbrachte. Mit großer Besetzung: Nils Lofgren und Ry Cooder an Gitarren, dazu Sänger Danny Whitten, der 1972 an einer Überdosis starb und manchmal wie Neil Young klingt, nur nicht so beseelt, nicht wie einer, der von gestern singt und dabei an morgen denkt. Die Platte mit dem wiehernden Pferd auf dem Cover ist nun wieder auf Vinyl erschienen. Harald Hordych

Erinnerungen an die Natur: Franco Violas Formakkorde. (Foto: Franco Viola/Heitsch Gallery/Franco Viola/Heitsch Gallery)

Franco Viola

In den Gemälden des italienischen Malers Franco Viola werden gegenständliche Elemente, die der Natur entstammen, einem drastischen Verwandlungsprozess unterzogen. In den vertikalen oder diagonalen Elementen seiner früheren Bildern waren die zugrundeliegenden Baumstämme und Felsen noch gut zu erahnen. Und in den meist warmfarbigen Flächen dazwischen konnte man einen Abendhimmel, in den horizontalen Streifen in der unteren Hälfte manchmal sogar das Meer vermuten. Mit diesen Grundmustern aus der Landschaft, in der er lebt - er blickt von seinem im Wald gelegenen Atelier in Gaeta direkt aufs Meer -, hat Viola in den letzten Jahren konsequent weitergearbeitet. Die Farben haben sich dabei immer deutlicher vom Naturvorbild getrennt, sie sind ganz in den Dienst der immer abstrakteren Kompositionen getreten. Die ursprünglichen Stamm- und Steinformationen lösen sich aus dem Zusammenhang, sie treten nun, mal balkenhaft hart, mal mit weichen Rändern, als freie Formelemente gegeneinander an und liefern sich dramatische Kämpfe im Bildraum. Oder sie einigen sich auf starke wohlklingende Farb- und Formakkorde. Von den Büchern, die über Franco Violas Werk erschienen sind, sei wenigstens das letzte hier erwähnt: Im Jahr 2019 ist der vom ehemaligen Documenta-Leiter Roger M. Buergel herausgegebene Band "Franco Viola. Towards the Indefinite" im Verlag Hatje Cantz erschienen.

Nun zeigt die Münchner Galerie Jörg Heitsch zu den derzeit üblichen Besuchsbedingungen Gemälde von Franco Viola. In dieser Ausstellung kommunizieren die aus dem ursprünglichen Formenarsenal entwickelten Spannungsfelder lebendig miteinander. In dem gelben Keil, der sich waagrecht zwischen zwei schwer lastende Farbflächen schiebt, könnte man noch einmal einen Sonnenuntergang vermuten. Die schwarzen Balken, die bei ihrem dramatischen Zusammenstoß fast die ganze Leinwand bedecken, hellen Farben keine Chance lassen und so das Licht im Bild zu löschen drohen, verbieten aber gegenständliche Assoziationen. Der Titel der Ausstellung freilich fast sehr gut zusammen, was auf den Bildern zu erleben ist: "Memorie di Natura" - Erinnerungen an die Natur. (Bis 12. Juni. Reichenbachstraße 14. Telefon 089/26949110) Gottfried Knapp

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