Kultur des Wirtshauses:Comeback der Kneip-Kur

Wo das Bier golden quillt und noch kein Mozzarella mit Tomaten auf der Speisekarte droht: Die Kulturgeschichte entdeckt das pralle Leben in der lange unterschätzten Institution Wirtshaus.

Christopher Schmidt

Meeresfrüchte sollten einen misstrauisch machen. Auch wenn die Fritteuse immer schon das Flaggschiff im Fuhrpark der Wirtshausköche war, haben Calamari fritti dort nichts verloren, ebenso wenig gegrillte Shrimps auf Blattsalat und Garnelen-Risotto, Pangasius-Filet oder Jakobsmuscheln mit Zitronengras. Aber auch Spargel mit Sauce hollandaise, Tomaten mit Mozzarella sowie alle Arten von Carpaccio und Getrüffeltem sind ein Alarmsignal sowie sämtliche Gerichte, deren Namen auf der Speisekarte mehr als zwei Zeilen in Anspruch nehmen.

Kultur des Wirtshauses: Nüchterne Stimmabgabe im Jahre 1949.

Nüchterne Stimmabgabe im Jahre 1949.

(Foto: Foto: Wien Museum)

Im Beisl sollte man sich ans Hergebrachte halten, an die heilige Dreifaltigkeit von Gulasch, Beuschel, Schnitzel, dazu ein Seidel Bier oder ein Achterl Wein, gerne auch nach Art eines sich selbst verlängernden Abonnements - darin sind sich die Gastro-Kritiker einig, im Gegensatz zu den Wirten.

Denn trotz ihrer weitgehenden Immunität gegenüber dem global normierten Gaumen muss sich auch die Wiener Küche immer wieder ihre Orthodoxie erkämpfen und sich gegen internationale kulinarische Importe und das sogenannte Cross-Cooking wehren. "Eine Wiener Speisenkarte ist so lang wie ein Heldenepos und in einem seltsamen, französisch-ungarisch-tschechisch-italienisch-wienerischen Idiom abgefasst. Ohne Dolmetscher kommen Sie da unmöglich weiter, oder Sie verirren sich in den gefährlichsten Magenabgründen", befand bereits 1927 der Berliner Journalist Ludwig Hirschfeld in seinem Reiseführer "Wien. Was nicht im Baedecker steht".

Dabei hat die Wiener Küche selbst interkulturelle Ursprünge und verdankt ihre Existenz dem kochkulturellen Crossover. Schon im 19. Jahrhundert brauchte man nur in einem beliebigen Wirtshaus die Topfdeckel zu lüften, um sich davon zu überzeugen, was ein melting pot ist. Die kulinarische Wagenburg-Mentalität, "mit höchster Intoleranz das Ergebnis jahrtausendelanger Toleranz" zu verteidigen, gehört zu den Schizophrenien der gewesenen Donaumonarchie. Beharrlich verbannt sie fremde Einflüsse aus ihrer Küche, deren Eigenart als "Gemüts-Klebstoff" genau diese fremden Einflüsse ausmachen, die sie einst aufgenommen und amalgamiert hat.

Erst vor kurzem forderte die FPÖ in einer Anwandlung von brauchtumspflegerischem Protektionismus, die traditionsbewusste Gastronomie stärker zu fördern. Österreich soll zu einer Festung des Vermeidungsverhaltens ausgebaut werden, die anhaltendem Kebab- und Pizza-Beschuss dauerhaft Stand hält. Damit es auf ewig bei jenem Dualismus bleibt, den Thomas Bernhard so zusammengefasst hat: "Leberknödelsuppe oder Frittatensuppe? Das war immer die Frage". So lautet die Hamlet-Alternative zwischen Sein und Nicht-Sein in Bernhards "Der Theatermacher", das im "Schwarzen Hirschen" in Utzbach spielt, einem Wirtshaus wie tausend andere, denn es gilt, "Utzbach wie Butzbach". Und "in den Fettaugen in der Suppe feiert die Provinz ihre Triumphe".

Auch das beispiellose Comeback des Wirtshauses, das im 19. Jahrhundert zum Erfolgsmodell innerstädtischer Nahversorgung aufgestiegen war, sich im 20. allerdings veränderten Ernährungs- und Freizeitgewohnheiten beugen musste, wäre nicht ohne politische Intervention möglich gewesen. Der Stammtisch war von jugoslawischer und chinesischer Konkurrenz umzingelt, eine Art "mentaler Stadtflucht" hatte um sich gegriffen, als die ÖVP als Maßnahme gegen die innerstädtische Verödung in den siebziger Jahren nach einem "Beislerhaltungsgesetz" rief. Nach erbittertem Streit konnte sich der politische Gegner, die SPÖ, zumindest darin durchsetzten, das Beisl, das sich vom jiddischen Wort "bajs" für kleines Haus herleitet, ohne "e" zu schreiben.

Doch wie so oft folgte die Politik nur einem Trend, den Nostalgiewelle, Stadtteilkultur und das, was man heute "Gentrification" nennt, bereits vorgespurt hatten. Ausgerechnet Peter Alexander wurde zum Aktivisten gegen das grassierende Wirtshaussterben, als er tief in den Schmalztopf griff und "Das kleine Beisl" besang. Diese österreichische Version der "Kleinen Kneipe in unserer Straße" hielt sich in Österreich 40 Wochen in den Charts und trug dazu bei, eine untergehende Welt zu retten. Aber auch André Heller und Georg Danzer machten "A Gulasch und a Seidl Bier" zu ihrem liedermacherischen Anliegen, doch das szenige Neo-Beisl ließ die derbe Wirtshaus-Semantik bald ins Beliebige verflimmern und deckte die desperaten Ursprünge sozialromantisch zu wie das karierte Tischtuch den nackten Holztisch.

Der eher zweifelhafte Leumund des Wirtshauses, das ursprünglich mehr Spelunke als respektable Einkehr war, wurde schon dem englischen König Richard Löwenherz zum Verhängnis. Im Jahre 1192 fiel er seinen Feinden in einem Wiener Einkehrgasthaus in Erdberg in die Hände, wie derzeit im Wien Museum zu lernen ist. Die Ausstellung "Im Wirtshaus - Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit" beleuchtet erstmals umfassend die Kultur- und Sozialgeschichte einer unterschätzten Institution, die gerade dank ihrer nicht diskursiv überschriebenen Alltäglichkeit reiches Material bietet.

Lesen im zweiten Teil, was der Kommandostand des Wirtes ist.

Comeback der Kneip-Kur

Sich in einer Taverne erwischen zu lassen, galt schon den alten Römern als anrüchig, die im heutigen Ersten Bezirk Wiens das älteste Wirtshaus der Stadt eröffneten. Gäste, die damals mit den Serviererinnen anbandelten, hatten das Gesetz auf ihrer Seite, das ihnen zubilligte, dass ein Seitensprung im Wirtshaus nicht als Ehebruch zu werten sei. Empfehlungen der Wirtsleute für die Kommunalwahlen an den Außenwänden ihrer Tavernen bezeugen, dass das Wirtshaus immer schon ein Ort war, wo nicht nur gezecht und gespielt, sondern auch die "Lufthoheit" über dem Stammtisch erobert wurde.

Seine Hochzeit erlebte das Wirtshaus allerdings erst im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung Heere von Arbeitern in die Städte schwemmte. Viele von ihnen verfügten als sogenannte "Bettgeher" nur stundenweise über ihre Wohnungen und hatten dort keine Kochmöglichkeit. Die so anheimelnde Rede vom Wirtshaus "als Wohnzimmer des kleinen Mannes", wo man "wia z'Haus" sei, hat ihren tristen sozialhistorischen Hintergrund in den Härten der frühen Industriegesellschaft. Als Sammelpunkte des marginalisierten Prekariats ist das Wirtshaus ein wissenschaftlich noch weitgehend unentdeckter Ort.

Auch wenn das Inventar bekannt ist: Die Schanktheke ist der Kommandostand des Wirtes, das Garderobenbrett findet sich diebstahlpräventiv eher dezentral positioniert, der Raumteiler dient als Element sozialer Differenzierung, die Schiefertafel mit den Tagesmenüs ist die letzte Bastion der Handschrift im Stadtraum, das Würzensemble mit der Maggi-Flasche ein interaktives Angebot, und schließlich ist das Stammtischzeichen der Platzhalter der Hausmacht. Die Wiener Ausstellung trägt manchem Forschungsdefizit feinfühlig Rechnung, indem sie mit einem gastronomisch erweiterten Museumsbegriff operiert. Zusätzlich zum opulenten Katalog hat sie eine Broschüre aufgelegt, die zur Feldforschung in 800 verzeichneten Wirtshäusern ermuntert. Felix Austria.

"Im Wirtshaus - Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit", Wien Museum bis 23. September, Info 0043-1-505 87 47 0. Der Katalog kostet 29 Euro.

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