Kultur und Corona:Die Seuche, die Kunst und das Geld

Corona Kultur Hilfe

Umgebaute Sitzreihen zur Einhaltung der Abstandsregeln im Berliner Ensemble.

(Foto: imago images/photothek)

In "Kunst und Kultur" arbeiten in Deutschland etwa so viele Menschen wie in der Autoindustrie. Wir brauchen klare Aussagen: Wen und was will man fördern - und aus welchen Gründen?

Von Thomas Steinfeld

Vor ein paar Tagen meldete das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst einen Erfolg: Das neu geschaffene Hilfsprogramm für Künstler, die infolge der Seuche in wirtschaftliche Not zu geraten drohen, werde in hohem Maße beansprucht. Mehrere Tausend Anträge seien eingegangen. Insgesamt 140 Millionen Euro stünden zur Verfügung: für freischaffende "Schriftsteller und Game-Designerinnen, Puppenspielerinnen und Tänzer", die nun für drei Monate jeweils 1000 Euro bekommen können.

Das ist nicht viel Geld, aus der Perspektive des Empfängers betrachtet, und es gab sofort Ärger, zum Beispiel, weil die ohnehin "subventionierte" Kultur besser behandelt werde. Doch geht es insgesamt um eine beträchtliche Summe, und das Engagement des Staates für "soloselbständige" Künstler und Kreative ist in dieser Grundsätzlichkeit etwas Neues.

Bei der Berechnung der Frist legte man im Ministerium offenbar einen Glauben zugrunde, bald schon lasse es sich wieder so leben wie vor der Pandemie. Man will durchhalten bis zum Herbst, so, wie man auch bei Konzertsälen, Theatern, Opernhäusern oder Klubs hofft, irgendwann im September oder Oktober zu einem halbwegs normalen Spielbetrieb zurückkehren zu können. Ob diese Erwartung eingelöst werden kann oder nicht, weiß man nicht, weshalb der so aufrechterhaltene Betrieb an die Zeichentrickfigur des Wile E. Coyote erinnert, der über die Klippe hinausrast und längst in der freien Luft strampelt, bevor sich die Schwerkraft als sein Verhängnis erweist.

Die Kultur expandiert in Deutschland seit Jahrzehnten - über alle ökonomischen Krisen hinweg

Die Geschichte der Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg ist in Deutschland die Geschichte einer fortlaufenden Expansion, über alle ökonomischen Krisen hinweg. Diese Entwicklung verläuft nicht linear, sondern seit den späten Achtzigern in einer steilen Kurve nach oben. Das gilt für neu geschaffene oder erweiterte Institutionen ebenso wie für die Zahl der in der Kultur Beschäftigten. Es gilt für die staatlich geförderte Kultur, aber auch außerhalb, in der sogenannten freien Szene, deren ungezählte Initiativen sich oft in komplizierten Abhängigkeiten zum subventionierten Betrieb befinden. Die Zahl der möglichen Förderfälle ist jedenfalls schon seit Jahren tendenziell unendlich. Oder anders gesagt: In Deutschland vollzog sich in den vergangenen Jahrzehnten eine "Kulturalisierung", die große Teile der Gesellschaft nicht nur erreicht, sondern auch gestaltet, in der - historisch betrachtet: jungen - Gewissheit, dass die Kultur etwas schlechthin Gutes und Erstrebenswertes sei.

Es mag indessen sein, dass die Großzügigkeit, mit der gegenwärtig Gamedesigner und Puppenspieler unterstützt werden können, einem Bruch in der langen Geschichte jener Expansion vorausgeht, als Höhepunkt in der Geschichte der Kulturalisierung und zumindest vorläufiges Ende zugleich.

In der Verlautbarung des Ministeriums verbergen sich einige Nachrichten zur Lage des Kulturbetriebs in Deutschland. Es lässt sich zum Beispiel erkennen, wie viele Menschen es in diesem Land gibt, die einer künstlerischen oder im weiteren Sinn kreativen Tätigkeit nachgehen. Allein für Bayern wird mit vierzig- bis sechzigtausend Kandidaten für das Hilfsprogramm gerechnet, wobei es sich zum größten Teil um prekär Beschäftigte handeln dürfte. Insgesamt müssten, schon aus dem Grund, dass etliche Kreative trotz allem noch von ihrer Arbeit leben können, erheblich mehr in diese Kategorie fallen. Rechnet man solche Zahlen auf Deutschland hoch, kommt man auf knapp eine Million Menschen, auf eine Menge mithin, die ungefähr der Zahl der Beschäftigten in der Automobilindustrie entspricht.

Ein öffentliches Bewusstsein davon, wie groß die Kultursphäre tatsächlich ist, gibt es aber ebenso wenig, wie bis vor Kurzem bekannt war, in welchem Umfang die Landwirtschaft in Deutschland von kurzfristig importierter billiger Arbeitskraft abhängig ist (beides, die Expansion der Kultur und das Outsourcing der niederen Arbeit, mag durchaus zusammenhängen).

Fortlaufend ist von der Bedeutung der Kultur die Rede, aber nicht von der Wiedereröffnung der Bibliotheken

Die Kultur ist, wie es scheint, auf der einen Seite eine bunte Masse, zu der "Kapellmeister" ebenso wie "Büttenredner" gehören, ohne dass man sich über die Unterschiede wundert. Auf der anderen Seite ist sie eine Sphäre, die, zumindest in politischen Reden, als etwas diffus Höheres, abstrakt Notwendiges dargestellt wird. So kommt es, dass einerseits fortwährend von der großen Bedeutung der Kultur die Rede ist, andererseits durchaus nicht mit derselben Entschlossenheit an der Wiedereröffnung von Bibliotheken oder Opernhäusern gearbeitet wird, wie das bei Fußballstadien der Fall ist.

"Kunst und Kultur sind für uns lebenswichtig", versicherte der bayerische Minister für Wissenschaft und Kunst, Bernd Sibler, als er das Hilfsprogramm vorstellte. "Deshalb wollen wir von Seiten des Freistaats auch in der Krise ein verlässlicher Partner sein." Wie verlässlich dieser Partner im Zweifelsfall sein dürfte, ließe sich indessen schon daran erkennen, dass er bei der Auflistung der anspruchsberechtigten Tätigkeiten auf eine offensichtlich veraltete Zusammenstellung der Künstlersozialkasse zurückgreift, die als "Beruf" definiert, was oft nur eine Collage aus Gelegenheitsarbeiten ist.

Bedeutsamer indessen ist, dass, in dieser Meldung wie in unzähligen ähnlichen Verlautbarungen, stets von "Kunst und Kultur" gesprochen wird. Die Kunst gibt hier den Spezialfall eines Schaffens ab, das zumindest von ferne noch etwas mit Genres, Techniken oder Formen zu tun haben soll. Die Kultur dagegen erscheint als das Allumfassende, in ihrer ebenso ausgreifenden wie vereinnahmenden Unverbindlichkeit, die man offenbar nur billigen können soll.

Die Rede von "Kunst und Kultur" ist so geläufig, weil sie so unscharf ist: Denn sie lässt nicht nur weit auseinanderliegende Tätigkeiten als miteinander kompatibel erscheinen, denen möglicherweise nur gemeinsam ist, dass sie meist schlecht bezahlt werden. Je weiter diese Expansion vorankam, desto leerer wurde der Begriff "Kultur", in dessen Namen sie vollzogen wurde: desto befreiter von inhaltlichen Kriterien, von historischem, literarischem oder kunstkritischem Wissen, von Ansprüchen an Qualität sowie überhaupt von gedanklichen Anstrengungen.

Deswegen steht das Wort "Kultur" auch in einem eher zweifelhaften Verhältnis zum Wort "systemrelevant", mit dem viele "Kulturschaffende" (ein weiteres Wort, in dem alle Unterscheidungen verwischt sind, und das im Übrigen im "Wörterbuch des Unmenschen" steht) gegenwärtig mehr staatliche Unterstützung fordern.

Wir brauchen klare Aussagen: Welche Kunst oder Kultur will man fördern - und aus welchen Gründen?

Die Voraussetzung der Rede von "Kunst und Kultur", in ihrer systematischen Indifferenz, ist die fortgesetzte Expansion des Kulturbetriebs. Nur solange die Kultur schlechthin als etwas Gutes, Erstrebenswertes und Förderungswürdiges betrachtet wird, und nur solange jede Initiative und jedes Projekt damit rechnen kann, wenn nicht unmittelbar gefördert, so doch gutgeheißen und zumindest im moralischen Sinne unterstützt zu werden, sind die Unterschiede zwischen Tätigkeiten, Genres und Qualitäten von untergeordneter Bedeutung. Und nur so lange stehen die Kosten für eine Veranstaltung wie etwa das Internationale Literaturfestival in Berlin, in dem die Abwesenheit eines Konzepts vor allem durch die Addition prominenter Autoren ausgeglichen wird, neben den Ausgaben für eine Galerie Alter Meister.

Wenn hingegen gründlich gespart werden soll, wird eine Kulturpolitik, die bislang dem sachlichen Urteil über die geförderten Unternehmungen mit einem Verweis auf die allgemeine Bedeutung von "Kunst und Kultur" ausweichen konnte, um klare Aussagen nicht herumkommen: Welche Kunst oder Kultur will man fördern - und aus welchen Gründen?

Man stelle sich vor: Tausend und Abertausende von Institutionen, Projekten und Freischaffenden, die alle mit dem Argument, man stehe doch für "Kunst und Kultur", um die schwindenden finanziellen Ressourcen kämpfen. Wie unangenehm muss eine solche Situation sein.

Man könnte dagegen vorausschauend handeln, zum Beispiel, indem man im Bereich "Kunst und Kultur" Kriterien für die Vergabe von Subventionen einführt, ähnlich wie jetzt beim großen "Hilfspaket" der Europäischen Union, bei dem zumindest ein Teil des vielen Gelds etwa an Investitionen in die Infrastruktur gebunden sein soll. Doch scheinen die Kulturpolitiker bislang nicht unterscheiden zu wollen.

Was also wird geschehen, wenn "Kunst und Kultur", weil insgesamt "systemrelevant" und deswegen weder der sachlichen noch der qualitativen Unterscheidung zugänglich, dem großen Sparen anheimfallen? Eine Weile noch wird die Illusion aufrechterhalten bleiben, man könne, mit vereinten Kräften, den gesamten Betrieb retten. Dann wird sie wohl aufgegeben werden müssen, vielleicht mit dem Argument, ein Sonderstatus für die "Kulturschaffenden" sei angesichts der vielen Arbeitslosen nicht länger zu rechtfertigen. Angesichts der kommenden Verteilungskämpfe wäre es jedoch in jedem Fall angemessen, sich beizeiten mit guten Argumenten zu wappnen.

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