Künstler aus Kasachstan:Auf der einen Seite Menschenrechte, auf der anderen Öl

Bolat Atabajew muss auf die Weltbühne - dort will er zeigen, dass seine Heimat Kasachstan kein demokratischer, sondern ein totalitärer Staat ist. Deswegen droht dem Theatermacher und diesjährigen Träger der Goethe-Medaille ein Prozess.

Daniel Brössler, Berlin

Tote und Verletzte bei Ölarbeiter-Protesten in Kasachstan

Zusammenstöße zwischen Ölarbeitern und der Polizei im kasachischen Schanaosen: Die Staatsmacht suchte nach Schuldigen und fand sie in Oppositionellen wie Atabajew.

(Foto: dpa)

Es war schon spät, als das Telefon klingelte. Es wäre schön, sagte die Anruferin, wenn er die Karten für das Theater in Almaty erst einmal wieder zurückgeben könnte. "Das Wetter hat sich geändert", fügte sie hinzu, als erkläre das alles. Bolat Atabajew lag in einem Hotelzimmer in Brüssel und war müde. "Sag offen, was los ist", bat der Theaterregisseur seine Anwältin. Es wäre besser, eröffnete sie ihm, er würde erst einmal nicht wie geplant zurückfliegen nach Kasachstan. Sein auf den 13. Oktober datiertes Retour-Ticket von Brüssel aus hat Atabajew verfallen lassen. Der diesjährige Träger der Goethe-Medaille hat nun erst einmal eingecheckt in Berlin, in einem Hotel in Schöneberg.

Seine Anwältin hat Atabajew klargemacht, dass er fürchten müsse nach seiner Rückkehr - zum zweiten Mal in diesem Jahr - verhaftet zu werden. Beim Prozess vor dem Stadtgericht in Aktau ist gerade der Oppositionspolitiker Wladimir Koslow zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Aufruf zum Sturz der Regierung und Gefährdung der nationalen Sicherheit sowie Anstachelung zu "sozialem Unfrieden". In der Urteilsbegründung soll die Richterin auch den Namen Atabajew genannt haben. Sein Fall werde an die Generalstaatsanwaltschaft verwiesen.

Der Fall Atabajew beginnt dort, wo das Öl herkommt: im Westen Kasachstans. Im Mai 2011 begann dort ein friedlicher Streik der Ölarbeiter gegen Ausbeutung und Entrechtung. Atabajew, künstlerischer Leiter des Deutschen Theaters in Almaty, fuhr zu den Streikenden und bekundete seine Solidarität. Im Streik sah er mehr als 20 Jahre nach dem Auseinanderfall der Sowjetunion und dem Beginn der kasachischen Eigenstaatlichkeit den Keim einer Zivilgesellschaft, ein Auflehnen gegen die Allmacht von Präsident Nursultan Nasarbajew. Nach Monaten friedlichen Protests kam es am 16. Dezember 2011 in Schanaosen zu Ausschreitungen zwischen Polizei und Bürgern. Zwölf Demonstranten starben.

Die Staatsmacht suchte nach Schuldigen und fand sie in jenen Oppositionellen, die sich mit den Streikenden solidarisiert hatten - in Wladimir Koslow, dem Vorsitzenden der nicht zugelassenen Partei Alga (Vorwärts), aber auch im bekannten Theatermann Atabajew. Am 15. Juni kamen drei Männer, um ihn zu verhaften. "Ich wollte meine Anwältin anrufen, aber sie schlugen mich und legten mir Handschellen an." Er sei, schildert Atabajew das Weitere, in einen Zug verfrachtet worden, einen "Viehwaggon", wie er sagt. 18 Häftlinge seien in sein Zellenabteil gepfercht gewesen. "Ich habe während der Fahrt Vorträge gehalten über die Zivilgesellschaft", sagt Atabajew.

Acht Tage Zugfahrt - ein Theaterstück

Fast 3500 Kilometer sind es von Almaty bis Aktau, acht Tage dauerte die Zugfahrt. "Es war eine Schule - oder ein Theaterstück", sagt Atabajew. Einer der Mithäftlinge habe seinen Chef getötet, einen Despoten, der das ganze Kollektiv terrorisiert habe. Einer habe einen Hammel gestohlen und das Fleisch verkauft, um seine Familie zu ernähren. Ein Dritter habe die Öl-Pipeline nach China angezapft. "Ich sagte: Du bis ein Dieb. Er sagte: Das ist unser Reichtum. Er gehört uns." Der zuckerkranke Atabajew schluckte seine Medikamente, aß aber zunächst nichts. Am vierten Tag dämmerte er in einen komatösen Zustand hinüber. "Plötzlich war ich in der Wiener Oper. Tosca, Puccini. Ich hörte die Musik. Das war ein schönes Bild." Sie päppelten Atabajew mit Brot, er kam wieder zu sich.

In Deutschland entfachte die Nachricht von der Verhaftung Atabajews einen kleinen Sturm. Vor der kasachischen Botschaft in Berlin übergossen sich Demonstranten mit Kunstblut. Volker Schlöndorff, mit dem er einmal ein Drehbuch geschrieben hat, setzte sich ein, ebenso wie Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Es sah so aus, als könne Atabajew im August nicht nach Weimar kommen zur Verleihung der Goethe-Medaille. Der Fall wurde zum Politikum. Am 20. Tag der Haft holten sie Atabajew dann aus der Zelle. Wenig später saß er in der Business Class eines Flugzeugs nach Almaty. Statt Brei gab es nun "Stör mit Spinat und dazu Moët". Atabajew fand das seltsam und lehrreich. Der Westen, lernte der Theatermann, kann erfolgreich Druck machen. Wenn er will.

Deutschland als Hort der Hoffnung

Von da an war Atabajew klar, dass er auf die Weltbühne musste. Während der Prozess gegen Koslow und andere Angeklagte einem Urteil entgegenstrebte, nahm sich Atabajew vor, den Unantastbaren herauszufordern, der Kasachstans Geschicke seit 1989 bestimmt: Nursultan Nasarbajew. Der Regisseur ging auf Tournee. In Moskau sprach er mit Oppositionellen. In San Francisco appellierte er an die Teilnehmern eines Freiheitsforums, Nasarbajew zu ächten: "Ungeachtet aller Lippenbekenntnisse, dass Kasachstan demokratisch ist, ist es ein totalitärer Staat. Alle Macht gehört einem Mann - das ist Nasarbajew." Danach fuhr er nach Brüssel, bettelte um Termine bei Europaabgeordneten. Dass der Westen nicht immer Druck machen will, war ihm da schon klar.

Nun sitzt der Kasache im Bundestagbüro der grünen Abgeordneten Viola von Cramon auf dem Sofa. Er markiert mit beiden Händen eine Waage und er klagt: "Auf der einen Seite sind die Menschenrechte, auf der anderen das Öl. Es wiegt immer schwerer." Erst im Februar ist Nasarbajew mit großem Bahnhof in Berlin empfangen worden. "Unsere intensivierte Zusammenarbeit mit Ihnen beginnt gerade erst", hatte er versprochen. Ein Abkommen über eine Rohstoffpartnerschaft wurde unterschrieben. "Warum siegen immer die Wirtschaftsinteressen? Ist es Doppelmoral oder keine Moral?", fragt Atabajew. Im deutschen Parlament sucht er Verbündete wie von Cramon, die in ihrer Fraktion Sprecherin für EU-Außenbeziehungen ist.

Sie teile die Einschätzung, sagt die Abgeordnete, "dass die Bundesregierung in Menschenrechtsfragen gegenüber der kasachischen Regierung aus wirtschaftlichen Gründen leider auf Leisetreterei setzt". Die große Solidarisierungskampagne von Kulturschaffenden, Abgeordneten aller Fraktionen und des Goethe-Instituts habe im Sommer ganz maßgeblich zur Freilassung von Atabajew geführt. "Das zeigt, dass die kasachische Regierung in Einzelfällen öffentliche Kritik aus Deutschland sehr ernst nimmt", sagt die Abgeordnete. Sie werde, verspricht sie Atabajew, sich gemeinsam mit Abgeordneten anderer Fraktionen für Koslow und bereits früher verurteilte Ölarbeiter einsetzen.

Bolat Atabajew

Bolat Atabajew wuchs in Kasachstan auf unter Wolgadeutschen, lernte deren Sprache und wurde zum deutschsprachigen Theatermacher. Er ist diesjähriger Träger der Goethe-Medaille.

(Foto: picture alliance / dpa)

Atabajew spricht hervorragend Deutsch in der Färbung der im Zweiten Weltkrieg nach Kasachstan deportierten Wolga-Deutschen. 1952 geboren, ist er in einem Dorf unter Deutschen aufgewachsen, entdeckte er die deutschen Dichter. Goethe, Schiller, Brecht - sie, versichert er, hätten seinen aufmüpfigen Geist geschärft. In seinem deutschsprachigen Stück "Lady Milford aus Almaty" geht es um eine deutsch-kasachische Schauspielerin, die nach Deutschland emigriert und keine angemessene Arbeit findet. Für Atabajew ist Deutschland weniger Fluchtpunkt als flüchtiger Hort der Hoffnung.

Und er fürchtet nicht die Theatralik. Für seine Sache sucht er sie, braucht er sie. "Ich will mein Leben nicht verbrennen im Westen. Ich will nicht nur essen, trinken und atmen." Solange er hier etwas tun könne, bleibe er. Erweise es sich, dass er mehr erreiche, wenn er sich zu Hause verhaften lasse, so werde er heimkehren nach Kasachstan. Dann fragt er: "Was meinen Sie? Was soll ich tun?"

Dabei ist das Stück schon so gut wie fertig, hinter Atabajews hoher Stirn. Da wird der Angeklagte Atabajew in den Gerichtssaal gebracht. "Aufstehen", sagt der Richter. Der Angeklagte legt sich hin. "Warum liegen Sie?", fragt der Richter. Der Angeklagte steht auf und sagt: "Heil, Richter." Später wird der Angeklagte eine Arie singen: "Ich war in Schanaosen und habe die Ölarbeiter unterstützt." Atabajew träumt davon, dass alle im Saal lachen werden über diese Komödie. Und wenn das Urteil fällt, dann will die Luft die durch die Lippen pressen und prusten aus ganzer Kraft. "Prrrrrrrrrrrrr."

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