Süddeutsche Zeitung

Kritik:Sturm im Hirn

"Korridor", ein Zauberstück von Caitlin van der Maas

Von Egbert Tholl

Mehrmals an diesem Abend wird eine kleine Geschichte erzählt: "Ein Mann steht und betrachtet eine Rose. Er steht zu nah, um sie richtig sehen zu können. Er steht zu weit entfernt, um sie riechen zu können." Was empfindet er?

Nun steht man im Foyer des Altbaus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in der Nußbaumstraße und betrachtet die Menschen dort. Manche lassen sich unschwer als Theaterbesucher identifizieren, man kennt einige vom Sehen. Andere kommen herein, mit Taschen, Rücksäcken, durchqueren zielstrebig den Raum. Kommen sie zur Arbeit, werden sie eine Nachtschicht absolvieren? Oder sind sie Patienten, die - wie nennt man das wohl - Freigang hatten und nun zurück in die Klinik müssen? Es ist Sonntagabend. Und dann stehen welche herum, die gehen nicht, die kommen nicht, die sind da und ein wenig altmodisch gekleidet. Sind sie Schauspieler? Sind sie Patienten? Träfe man sie an einem anderen Ort, man dächte nicht daran, dass diese Menschen medizinische Hilfe bräuchten. Aber hier? Ein Herr in einem grauen Anzug zieht einen mit einer gewissen Faszination an. Im Revers trägt er eine Blume, eine rosa Blume, die grauen Haare bilden einen widerspenstig-struppigen Scheitel. Er hat ein gutes Gesicht, einen scheuen Ausdruck darin, viel Wachsamkeit. Er fragt die anderen hier, ob sie seinen Hund gesehen hätten. Später wird der Hund auftauchen, in vielfältiger Gestalt. Immer wird er rosa sein und aus einem verknoteten Luftballon bestehen.

Da flackert das Licht im Kämmerchen unter der Treppe. Man sieht im Fensterchen eine Hand, später einen Arm, der in einen Kittel rutscht, einen Ordner. Die Hand schreibt etwas in den Ordner. Es ist noch gar nicht viel passiert, und schon ist man im Inneren nicht mehr der, der man war, als man hierher kam. Dann kommt Bewegung ins Foyer, ein bisschen Aufregung, verführerischer Gesang hebt an, und schließlich wird man geleitet. Erst Treppe hoch, dann blickt man hinunter und sieht Silja Bächli katatonisch und berückend schön zu Boden stürzen, dann geht es immer weiter, aufgeteilt in kleine Grüppchen verliert man sich im Inneren der Klinik.

Caitlin van der Maas hat mit "Korridor" eine fantastische Performance in die Klinik hineingezaubert. Dafür schrieb ihr Tom Smith Musik, genuine und Übermalungen eines alten Liedes, dafür sprach sie mit Patienten in der Klinik, von denen einige nun einen Chor bilden, darunter jener Herr im grauen Anzug. Diesem Chor merkt man seine Eigentlichkeit nicht an, er ist genauso "normal" wie die drei Schauspielerinnen - neben Bächli Angelika Krautzberger und Maike Schroeter - und die drei Sänger, María José Rodriguez, Tom Smith selbst und Gustavo Castillo Estrada.

Hier gibt es keinen Unterschied mehr zwischen gesund und psychisch krank

"Korridor" entstand im Rahmen der städtischen Inklusions-Reihe und darf als vorbildlich gelten, da van der Maas die Grenzen zwischen gesund und psychisch krank nicht aufhebt, sondern völlig negiert, und somit alle gleichberechtigt zu einem Erlebnis beitragen, das manchmal an Robert Walser, manchmal an Kafka, manchmal einen an sich selbst denken lässt. Die Räume der Klinik werden dabei selbst zum Geschehnis, der titelgebende Korridor etwa wird als dramatischer Lichtschlauch zum Ort einer seltsamen Prozession. Wie hier die Genauigkeit der kleinsten Mittel einen sanften Sturm im Hirn entwickelt, ist atemberaubend.

Noch am 10., 11., 14., 15., 18., 20. und 21. Februar

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SZ vom 09.02.2016
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