Süddeutsche Zeitung

Kritik an "Precious":Schwarze Stars, weiße Retter

Die Mutter auf Crack, der Vater ein Sexmonster: Der mit zwei Oscars prämierte Film Precious zementiere rassistische Ressentiments. Nun wird Kritik laut.

Jörg Häntzschel

Afroamerikanische Kulturkritiker und Aktivisten haben es fast aufgegeben, darüber zu klagen, dass Schwarze in der amerikanischen Populärkultur nach wie vor drastisch unterrepräsentiert sind. Man hat sich damit abgefunden, dass jenseits von Hip-Hop und R&B nur Platz ist für ganz wenige schwarze Stars.

Da müssten Lee Daniels' Film "Precious", der gerade zwei Oscars erhielt, und das Musical "Fela!", das am Broadway seit Monaten ausverkauft ist, doch für einige Genugtuung sorgen. In beiden wirken fast ausschließlich Schwarze mit. Beide werden vom Publikum wie von den Kritikern gefeiert. Und sowohl das Musical als auch der Film sind aus subkulturellen Nischen in den Mainstream aufgestiegen und leben von einer Authentizität, die rar ist im Showbiz.

"Precious" (deutscher Filmstart: 25. März) basiert auf dem 1996 erschienen Roman "Push" der zuvor unbekannten Dichterin Sapphire. Der Film erzählt die Geschichte einer fetten, traumatisierten und analphabetischen 16-Jährigen in Harlem, die von ihrer Crack-süchtigen Mutter misshandelt, vom Vater missbraucht und mit HIV infiziert wird und schließlich zwei Kinder auf die Welt bringt, von denen eines das Down-Syndrom hat.

Mit der Verfilmung ist nicht nur die als beste Nebendarstellerin mit einem Oscar ausgezeichnete Mo'nique über Nacht zum Star geworden, sondern vor allem die 26-jährige Gabourey Sidibe, die die Titelrolle spielt. Sie ist Tochter eines Brooklyner Taxifahrers, hat keinerlei Schauspielerfahrung - und sie liegt mindestens einen Zentner über Hollywoods Normgewicht.

Bill Jones, der Regisseur von "Fela!", der die Lebensgeschichte der nigerianischen Afrobeat-Legende Fela Kuti erzählt, war bereits als Choreograph und Tänzer erfolgreich, als er das Stück 2008 an einer Off-Broadway-Bühne inszenierte. Dennoch: Dass eine solche Produktion ohne große Namen, ohne Kitsch und Romantik von einem großen Broadway-Theater übernommen wird, das ist mehr als rar. Nächste Station: Eine nicht zuletzt vom Stück inspirierte Verfilmung von Fela Kutis Leben durch den - ebenfalls schwarzen - Künstler Steve McQueen.

Erstaunliches Talent für Tanz und Gesang

Doch die Begeisterung wird keineswegs von allen Schwarzen geteilt. Der Kritiker Armond White verglich "Precious" in der New York Press mit "Birth of a Nation" und nannte ihn "den Betrug des Jahres". Courtland Milloy schrieb in der Washington Post, "Precious" habe "so viel sozialkritischen Wert wie ein Pornofilm". Charles Isherwood, der (weiße) Theaterkritiker der New York Times, schrieb über "Fela!": "Die Darstellung afrikanischer Kultur als opulenter exotischer Feier" unterstreiche "die stereotype Vorstellung von den Afrikanern als primitiven und naiven, wenn auch mit erstaunlichem Talent für Tanz und Gesang begnadeten Menschen". "Fela!" erinnerte ihn sogar an die Minstrel-Shows des 19. Jahrhunderts.

Ganz von der Hand zu weisen ist Isherwoods Kritik nicht. Fela Kutis phänomenale musikalische Karriere und sein Kampf gegen das korrupte Regime, die Ölkonzerne und die Polizei ist hier in den fiktiven letzten Abend seines legendären Nachtclubs "The Shrine" in Lagos gepackt, den Akteure und Publikum - das zumindest ist die dramaturgische Idee - gemeinsam im wild dekorierten Theater feiern. Es ist eine überwältigende und begeisternde Show. Nicht nur der Musik und des für eine Broadway-Produktion avantgardistischen Bühnenbilds wegen, sondern vor allem wegen der unglaublichen Körperarbeit von Felas "Frauen", die ihn unermüdlich umtanzen.

Isherwoods Kritik, es gehe hier weniger um politische Geschichte, sondern um schwindelerregende Sexiness, ist kaum von der Hand zu weisen. Muss aber ein Musical, nur weil es um afrikanische Kultur geht, unbedingt alle Kriterien politischer Korrektheit erfüllen? Wäre nicht auch das eine Form des Rassismus?

Lesen Sie weiter auf Seite 2, welcher Kritik der Film "Precious" ausgesetzt ist.

Die Einwände gegen "Precious", die inzwischen sogar schon auf der Kommentarseite der New York Times erhoben wurden, sind erheblich schwererwiegender. Zumal sie sich nicht, wie bei "Fela!", gegen eine kleine Truppe von Künstlern richten, sondern gegen die beiden mächtigsten schwarzen Figuren des amerikanischen Showbiz, die den Film mitproduziert und promotet haben: Den Produzenten, Schauspieler und Regisseur Tyler Perry und Amerikas Gallionsfigur des guten Zwecks, Oprah Winfrey.

Das Problem des Films liegt in dem simplen Umstand, dass er wenig unternimmt, um den Zuschauer daran zu erinnern, dass er nicht heute, sondern 1987 spielt, auf dem Höhepunkt der Crack-Epidemie.

Die prominenten Unterstützter des Films haben ein Übriges getan: Eine von ihnen ist die Ex-Präsidentengattin Barbara Bush, die in Newsweek schrieb: "Kinder wie Precious gibt es überall. Jeden Tag laufen wir an ihnen vorbei." Für den Times-Kommentator Charles Blow missachten derlei gutgemeinte Kommentare, wie auch der Film selbst, wie viel sich in den letzten 20 Jahren an den katastrophalen Zuständen in Amerikas schwarzen Vierteln gebessert hat.

Laut Statistik konsumieren Schwarze zwischen 18 und 25 Jahren tatsächlich weniger Drogen als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen. Inzest und Missbrauch komme unter Schwarzen nicht häufiger vor als unter anderen Bevölkerungsgruppen. "Precious" hingegen perpetuiere den "modernen Mythos" schwarzer familiärer Verwahrlosung, mit dem Vater als Sexmonster, der verkommenen "Crackmutter" und Kindern, deren Existenzen schon bei der Geburt für gescheitert erklärt werden.

Und schlimmer noch: Er tue dies ohne den geringsten Hinweis darauf, dass dieses sich angeblich ewig wiederholende Desaster seine Ursachen in Amerikas Geschichte und seinem Rassismus habe. Der Film verkaufe dem weißen Publikum das gute Gefühl aufrichtiger Anteilnahme, ohne dass sich dieses Gedanken um die eigene Verstricktheit machen müsse.

"Die Probleme der schwarzen Unterklasse werden als Resultat ihrer Kultur, ihrem Mangel an persönlicher Verantwortung dargestellt." Und es ist ihm und andern auch nicht entgangen, dass die drei Menschen, die Precious den Weg aus ihrem Elend weisen - die spröde Sozialarbeiterin Miss Weiss (grandios gespielt von Mariah Carey), der Krankenpfleger John McFadden (Lenny Kravitz) und die Lehrerin (Paula Patton) - die hellhäutigsten Figuren des ganzen Films sind: Er schmeichle dem weißen Publikum "mit dem Stereotyp des wohlmeinenden Sklavenhalters".

"Hör auf damit!", ruft Blow Tyler Perry zu, der sein ganzes Medienimperium auf die komödiantische Darstellung dysfunktionaler schwarzer Familien und ihrer bedröhnten Matriarchinnen aufgebaut hat. Das lässt an die Ermahnungen der letzten Jahre denken, die Rapper sollten sich endlich von der Glorifizierung von Gewalt, Sex und Konsum verabschieden.

In einigen Bereichen hat sich für die Schwarzen tatsächlich viel gebessert, anderswo, bei ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt etwa, steht es heute schlechter denn je. Doch die Vehemenz, mit der diese Debatte geführt wird, lässt ahnen, wie prekär Amerikas schwarze Minderheit ihren Status nach wie vor empfindet.

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Quelle:
SZ vom 10.3.2010/rus
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