Beim spontanen Solidaritätsmarsch im Januar mit fast vier Millionen Teilnehmern unter der Parole "Je suis Charlie" glaubte das an sich zweifelnde Frankreich Selbstvertrauen, inneren Zusammenhalt und verlorene Kernüberzeugungen wiedergefunden zu haben. In der seither massenhaft verkauften "Abhandlung über die Toleranz" von Voltaire liest es nun nach, was unter jener "Charlie"-Parole verstanden werden soll. Falsch verbunden - wenden nun allerdings manche Intellektuelle ein: Voltaire sei keineswegs der richtige Mann für die Stunde.
"Voltaire ist unser gutes Gewissen und unser schlechtes Bewusstsein", erklärt Régis Debray in der Revue des Deux Mondes. Er hänge die allgemeinen Prinzipien wie Toleranz und Vernunft heraus, doch sei die Toleranz eine schwache Idee für schwache Zeiten wie die unsere - "für Monsieur Hollande ganz vorzüglich". Im Unterschied zu Rousseau, dessen Denken die künftigen Verwerfungen Europas vorweggenommen habe, hatte Voltaire laut Debray mit seinem Dauerappell ans aufgeklärte Subjekt keine Ahnung von dem, was die Geschichte antreibt, und dachte als Mann der Schlossgärten und europäischen Fürstenhöfe über sein Jahrhundert nie hinaus. Uns abendländischen Individualisten ist er mit seiner Lebensfreude, seinem Witz, seiner Provokationslust die angenehmste und doch zugleich, so Debray, unbrauchbarste Gesellschaft, denn "wir stoßen heute überall auf der Welt auf etwas, was in seinem Programm nicht vorgesehen ist: Gemeinschaftsreflexe, Stammesverhalten".
Ähnliche Ansichten hat auch der linke Philosoph Alain Badiou schon vertreten. Das wahre Licht der Aufklärung komme nicht von Voltaire, sondern von Rousseau, und Frankreich müsse nun wissen, ob es "sich auf die Seite des konstant fortschrittlichen und wirklich demokratischen Rousseau schlagen will oder auf die Seite des spitzbübischen Affäristen, des wohlhabenden skeptischen Spekulanten, Spötters und Genießers, der wie ein böser Geist in der Brust Voltaires wohnte" und der mit seinen Ausfälligkeiten gegen Jeanne d'Arc oder andere Religionsfiguren bewiesen habe, dass er philosophisch nicht weit sah.
Warum gingen Milieus auf die Straße, die für Blasphemie wenig übrig haben?
Der heftigste Schlag gegen das vermeintlich wiedergefundene republikanische Selbstverständnis Frankreichs kommt nun aber vom streitlustigen Demografen Emmanuel Todd. In seinem Buch "Qui est Charlie? Sociologie d'une crise religieuse" ( Wer ist Charlie? Soziologie einer Religionskrise, im Seuil-Verlag) fordert er die Überzeugung heraus, "Je suis Charlie" sei vom Engagement für Toleranz, Meinungs- und Pressefreiheit beflügelt gewesen. Wer sind diese an sich sympathisch wirkenden Demonstranten, die einem Andersdenkenden so einhellig und kategorisch entgegentreten? - fragt er sich und tut dann, worauf er sich vom Beruf her versteht: Er vergleicht geografische Karten.
Vier Millionen Demonstranten, das sei zwar eindrücklich, bei einer Bevölkerung von 60 Millionen aber doch sehr lückenhaft. Da sei nur ein halbes Frankreich auf die Straße gegangen. Die größte Anhängerschaft bei dem vor allem von der gebildeten Mittel- und Oberklasse getragenen Solidaritätsmarsch für "Charlie" fand er erwartungsgemäß in den Metropolen Paris oder Lyon und - überraschend - proportional auch in jenen Randgebieten des Westens und Ostens, die antilaizistisch, antirepublikanisch sowie - bis in die Nachkriegszeit - vorwiegend katholisch-konservativ geprägt sind und Dingen wie Gotteslästerung und freier Meinungsäußerung eigentlich feindlich hätten begegnen müssen.
Was ist hier geschehen?, fragt Todd und findet eine originelle Antwort. Im religiösen Leerraum des "Zombie-Katholizismus" eines weitgehend entchristianisierten Frankreich sei das Bedürfnis nach Spott und Kritik stellvertretend nachgeholt worden, gegenüber einer anderen Religion: dem Islam. Hinter den Solidaritätsmärschen für "Charlie" stehe nicht nur das Bekenntnis zu Toleranz und Meinungsfreiheit, sondern auch verkappter, oft unbewusster Fremdenhass: Lasst uns im endlich aufgeklärten Westen in Ruhe mit euren Religionsproblemen!
Eher als von den republikanischen Idealen der Égalité und des gegenseitigen Verständnisses sei der Aufstand der Anständigen im Januar von Gefühlen wie Identitätsangst, Egoismus und dem Verlangen nach Ausgrenzung getrieben worden, die an dunkle Kapitel der französischen Geschichte erinnerten.
Meinung statt Argumente
Auf die scharfe Kritik an dieser These reagiert Todd mit einer beleidigten Virulenz, die an das empörte Aufbegehren Pierre Bourdieus erinnert: Er sei Soziologe, nicht Intellektueller, er wolle mit Argumenten, nicht mit Meinung widerlegt werden. Gerade Meinung ist neben dem in der Tat ausgiebigen Fakten- und Kartenmaterial aber bei Todd selbst üppig vorhanden. Wenn er schreibt, das kollektive Pochen auf das Recht zur Blasphemie sei gegenüber einer Religion, die im Land insgesamt nur fünf Prozent ausmache, hoch problematisch, dann steht hinter den Zahlen eine persönliche Meinung - jene, dass Minderheiten eine Sonderbehandlung verdienen.
Emmanuel Todd ist überzeugt, das laizistische Frankreich habe mit der Religion ein Problem und könne die entstandene Lücke nicht mehr mit verlässlichen Grundwerten schließen. Das stellen seine Kritiker in Abrede.
Er glaube nicht, dass eine "religiöse Krise" heute das Hauptproblem der Republik sei, sagte Laurent Joffrin, Chefredakteur der Zeitung Libération, in einem Streitgespräch mit Todd: Die Staatsbürger könnten die einstigen religiösen Werte durch andere gemeinschaftsbindende Werte ersetzen, wie ja gerade der Solidaritätsmarsch für Charlie Hebdo im Januar gezeigt habe.
Kritik, die übers Ziel hinausschießt
Diesen "esprit de janvier" möchten seine Wortführer sich nicht durch provozierende Auslegungen verderben lassen. Ihr Argument, westliche Selbstzensur in Kritik und Satire gegenüber dem Islam käme einer umgekehrten Diskriminierung gleich, hat Gewicht. Es steht für das aufklärerische Prinzip allgemeiner Kritikwürdigkeit. Manche Publizisten schießen aber mit ihrer Forderung nach Solidarität ihrerseits übers Ziel hinaus. Caroline Fourest etwa, Redaktionsmitglied bei Charlie Hebdo, rückt in ihrem Buch "Éloge du blasphème" (Lob der Gotteslästerung) alle, die "nicht Charlie sein mochten", tendenziell in die Nähe des Front National und jenes Jean-Marie Le Pen, der erklärte, lieber als "Charlie" Charles Martel sein zu wollen, der Herrscher, der den Muslimen bei Poitiers eins aufs Dach gab.
Zum tieferen Verständnis des kategorischen Imperativs, sich im Namen der Meinungsfreiheit vorbehaltlos hinter die Redaktion des Satiremagazins zu stellen, ist Todds Studie hilfreich. Sie gibt der provozierenden Frage nach den Motiven, die neben Freiheitsliebe und Toleranz hinter der Massensolidarität gestanden haben könnten, faktische Substanz. Todds Schlussfolgerung jedoch, Blasphemie solle im modernen demokratischen Staat nicht weniger, aber auch nicht besser garantiert werden als die Kritik an der Blasphemie, hätte des langen Umwegs über die Theorie von der Dominanz einer Mehrheit über eine Minderheit nicht bedurft. Die Trumpfkarte Voltaire sticht an dieser Stelle nicht mehr.