Kritik am Umbau der Gare du Nord:Frankreichs Stuttgart 21

Ville de Paris, transport ferroviaire de voyageurs, Gare du Nord SNCF

Der belebteste Bahnhof Europas: Gare du Nord in Paris, errichtet 1846.

(Foto: Emile LUIDER/REA/laif)

Der Streit in Paris über den Umbau der Gare du Nord zeigt exemplarisch, wie um den Bahnhof der Zukunft gerungen wird.

Von Joseph Hanimann

Der belebteste Bahnhof Europas stammt aus dem tiefen 19. Jahrhundert und ist mit seinen 700 000 Passanten täglich vollkommen überlastet. Von der Pariser Gare du Nord fahren neben den Vororts- und Regionalzügen auch die Hochgeschwindigkeitszüge nach Brüssel, Köln, Amsterdam, London ab. Als vor gut einem Jahr die Ausbaupläne des Architekturbüros Valode & Pistre bekannt wurden (SZ vom 22. August 2018), staunte man. Wie schaffen die das, die gegenwärtig gut 30 000 Quadratmeter Nutzfläche für die Reisenden in einem Bahnhof ohne Raumreserven zu vervierfachen, mit neuen Ladengalerien, Restaurants, Büros, Veranstaltungsräumen und einem Sportareal auf dem Dach? Überdies sollte das 600-Millionen-Projekt die Reisenden nichts kosten, da die Eisenbahngesellschaft SNCF sich mit einer Filiale des Supermarktkonzerns Auchan als Investor zusammengetan hat.

Dann kam aber die Kritik. Inakzeptabel, protestierte ein Architektenkollektiv mit Jean Nouvel und Dominique Perrault in einem öffentlichen Aufruf. Zwei Drittel der Reisenden seien Vorstadtpendler, und sie täglich im Obergeschoss wie in einem Flughafen durch eine Shoppingmall zu schleusen, bevor sie auf die Bahnsteige zu den Zügen gelangen, sei eine Unverschämtheit. Zudem sei es urbanistisch absurd, mit so einem neuen Ladenkomplex im Bahnhof der ganzen Umgebung wirtschaftlich das Wasser abzugraben. Und das Meisterwerk des Architekten Jacques Ignace Hittorff aus dem Jahr 1864 mit den eleganten Stahlsäulen und der prächtigen Raumweite werde durch die Zwischenetagen und Treppen vollkommen entstellt.

Dagegen argumentierten die Architekten Denis Valode und Jean Pistre, ihr Projekt sei vor allem auf bessere Zugangswege und Warteräume für die Passagiere aus, und die Quadratmeterzahl der Läden sei proportional zur Zahl der Passanten deutlich geringer als in anderen Bahnhöfen. Das Werk Hittorffs werde nicht entstellt, sondern vielmehr in seine alte Würde gesetzt. Von Seiten der SNCF rechtfertigt man sich mit dem Argument, Einkaufsmöglichkeiten an den Verkehrsknotenpunkten würden von den Passanten laut Umfragen gewünscht. Auch die Pariser Stadtregierung stand anfänglich hinter dem Projekt. Nun geht sie auf Distanz.

Der für Stadtplanung zuständige stellvertretende Oberbürgermeister Jean-Louis Missika wirft der SNCF vor, mehr als auf die architektonische Qualität auf finanzielle Entlastung geachtet zu haben. Dieser Bahnhof brauche nicht noch mehr Fülle, sondern mehr Leerraum, betont er und verlangt einen konzeptuellen Neustart fürs Projekt. Wenn dafür anstelle des Investors die öffentliche Hand zulegen müsse, sei die Stadt dazu bereit. Motiviert dürfte der Positionswechsel dadurch sein, dass Zweifel aufkommen, ob dieser komplizierte Umbau für die Olympischen Spiele 2024, für die er ursprünglich anberaumt war, überhaupt noch termingerecht durchführbar sei. Darüber hinaus stellt die Gare du Nord aber ein Beispiel dar zur Frage, was für ein Bahnhofsmodell die Laden- und Bummelmeilen der letzten Jahrzehnte ablösen soll. Ein Nicht-Ort für Flaneure mit Rollkoffer wäre ebenso problematisch wie eine städtische Monade für Gehetzte im Niemandsland der Mobilität.

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