Süddeutsche Zeitung

Kristina Gorcheva-Newberrys Roman "Das Leben vor uns":Verhängnisvoller Fatalismus

Kristina Gorcheva-Newberry versucht, in ihrem ersten Roman die russische Mentalität der Gegenwart zu erklären - auf den Spuren von Tschechows "Kirschgarten".

Von Sonja Zekri

Der Titel von Kristina Gorcheva-Newberrys Perestroika-Buch "Das Leben vor uns" lautet im englischen Original "The Orchard". Das Debüt ist tatsächlich also nach dem "Kirschgarten" (Englisch: "The Cherry Orchard") modelliert, Tschechows tausendmal hin- und her-gedeutetem berühmtesten Theaterstück über ein verschwindendes Zeitalter. Um es damit literarisch aufzunehmen muss man außerordentliches Selbstbewusstsein haben oder außerordentliches Talent. Oder beides.

Kristina Gorcheva-Newberrys Figuren tragen leicht veränderte Tschechow-Namen: Ranewa statt Ranjewskaja, Lopatin statt Lopachin, Trifonow statt Trofimow. Ihre Geschichte dreht sich um vier lebenshungrige, lebenslustige Teenager, die den Anbruch einer neuen Zeit, der Perestroika, erleben: Anja, die Ich -Erzählerin, und ihre Freundin Milka, der wilde Lopatin und der zergrübelte Trifonow. Seite um Seite werden Tschechows Dramen gelesen, zitiert, verschenkt. Sogar ein echter Garten kommt vor, wenn auch ein Apfelgarten, der von einem Umsturzgewinnler aufgekauft und gentrifiziert werden soll und am Ende ganz real abgeholzt wird. Mehr Tschechow geht nicht.

Wer nie ein Wort über Russland gelesen hat, der findet hier eine gelungene Einführung in Kultur und Warenwelt

Mehr Perestroika allerdings auch nicht. Gorcheva-Newberry ist - wie ihre Hauptfigur - in der späten Sowjetunion am Stadtrand von Moskau aufgewachsen, hat an der Staatlichen Linguistischen Universität in Moskau studiert und als Lehrerin gearbeitet. Als sie für eine Gruppe amerikanischer Drachenflieger übersetzte, lernte sie ihren Mann kennen und siedelte 1995, auf dem Höhepunkt des postsowjetischen Elends und der Wirren, aber auch: postsowjetischer Freiheit in die USA um, nach Bland County im Südwesten Virginias. Dutzende Kurzgeschichten hat sie seither veröffentlicht. "Das Leben vor uns" ist ihr erster Roman, geschrieben in der besten aller Absichten: Russland, also das geschundene Putin-ferne duldende Russland, amerikanischen Lesern nahezubringen.

Dafür betreibt sie erheblichen enzyklopädischen Aufwand, buchstabiert geduldig Speisen und Getränke jener Jahre, Kleidung und Rockstars, Filmtitel und Apfelsorten, literarische Klassiker (Tschechow!). Wer nie ein Wort über Russland gelesen hat, der findet hier eine gelungene Einführung in Kultur und Warenwelt. Wer noch nicht wusste, dass der Untergang der Sowjetunion auch Ängste auslöste, der kann Anjas Vater zuhören, der alles eingängig zusammenfasst: "Das ist wirklich das Ende einer Epoche, das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Was an die Stelle dieser Welt tritt, ist schwer zu sagen, aber viele werden zugrunde gehen."

Als Milka tatsächlich zugrunde geht, hat das zwar nichts mit der Perestroika zu tun hat, markiert aber dennoch das Ende von Anjas Jugend. Anja reist aus und kehrt erst 20 Jahre später in ein völlig verändertes Russland zurück. Bei Gorcheva-Newberry ist dieses Russland wie jedes Russland davor ein Land, dessen Menschen eine "tiefgründige, schädliche Traurigkeit" quält, ein verhängnisvoller Fatalismus, der keinen Fortschritt, keine Entwicklung zulässt, geschweige denn Demokratie. Und Russlands Überfall auf die Ukraine plötzlich fast folgerichtig aussehen lässt. Kein Wunder, dass die Russen nicht aufbegehren, wenn ihre Söhne im Nachbarland verschlissen werden, bei so viel schädlicher Traurigkeit. In gewisser Hinsicht ist Gorcheva-Newberrys These die literarische Weiterentwicklung der "russischen Seele". Wem diese Tschechow-Trivialisierung nicht genügt, dem bleibt ja immer noch das Original.

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