Trans Atlantik Express:Wir sorgen für Sie

Trans Atlantik Express: Behagliche Höhle oder Zwangsinstrument: Im Zuschauerraum darf man ruhig zwischen den anderen im Dunkeln sitzen - meistens muss man es sogar.

Behagliche Höhle oder Zwangsinstrument: Im Zuschauerraum darf man ruhig zwischen den anderen im Dunkeln sitzen - meistens muss man es sogar.

(Foto: Daniel Reinhardt/dpa)

Wie schön, wenn Kunst keine Ansprüche stellt. Und wie schrecklich, wenn sie ihre Versprechen bricht. Die New-York-Kolumne mit einer neunstündigen Theaterinszenierung.

Gastbeitrag von Kristen Roupenian

Was Kultur angeht, war das Extreme immer genau nach meinem Geschmack. Der grausamste Horrorfilm, der abstoßendste Erzähler, ein 1000-Seiten-Buch voller Fußnoten über die obskuren Obsessionen des Autors - mich zieht Kunst an, die einen leiden lässt, aus keinem besonderen Grund, nicht um einen besseren Menschen aus einem zu machen, nur um zu testen, ob man es aushält. Als ich hörte, dass es diesen Monat in einer Garage in Brooklyn ein Theaterstück geben würde, das neun Stunden ohne Pause dauerte und "Eine Nacht" hieß, war deshalb natürlich klar, dass ich hingehen würde.

Ich lud meine Freundin Sophie ein, die schon mal bereit gewesen war, an einem Dienstagabend mit mir in eine Drei-Stunden-Oper zu gehen, nachdem alle anderen Freunde in letzter Minute abgesagt hatten. Daher wusste ich, dass sie dabei war, wenn es um Kunst mit einer gesunden Portion Unbequemlichkeit ging. Die Theatergruppe, die das Stück brachte, Target Margin, bestand darauf, dass es keiner heldenhaften Ausdauer bedürfte, die Inszenierung zu besuchen, dennoch waren wir skeptisch. Liebe quälend lange + langweilige Kulturevents, antwortete Sophie, als ich sie fragte. Willkommen in der Hölle, sagte ich und schickte ihr das Ticket. Ins Zweckfeld ihrer Venmo-Überweisung schrieb sie: Elend.

"Eine Nacht" erzählt "Tausendundeine Nacht" nach, ein Buch, das unter anderem eine erstaunliche Befragung der Machtverhältnisse zwischen einer Künstlerin und dem Publikum ist. Manchmal denke ich, das Interessanteste an Kunst ist, dass man darin auf so vollkommen einvernehmliche Art mit einem anderen menschlichen Bewusstsein in Verbindung tritt. Jede Sekunde, die ich einen Roman lese, unterliegt meiner freien Entscheidung, und sobald er mich ärgert oder beleidigt oder auch nur ein bisschen langweilt, kann ich aussteigen, ohne mich im Geringsten rechtfertigen zu müssen. Was soll der Autor schon machen, vor meiner Tür stehen?

Trans Atlantik Express: Kristen Roupenian ist Schriftstellerin. In ihrer SZ-Kolumne "Trans Atlantik Express" berichtet sie alle vier Wochen aus dem New Yorker Kulturleben.

Kristen Roupenian ist Schriftstellerin. In ihrer SZ-Kolumne "Trans Atlantik Express" berichtet sie alle vier Wochen aus dem New Yorker Kulturleben.

(Foto: privat)

Liveaufführungen verschiedenster Art haben eine kompliziertere Dynamik: Man kauft sich freiwillig ein Ticket, betritt freiwillig den Raum, aber einmal drinnen, ist man durch einen losen sozialen Vertrag verpflichtet zu bleiben. Mittendrin zu gehen, ist auch ein Statement des Missfallens oder der Respektlosigkeit. Je kleiner das Publikum, je intimer die Aufführung wird, desto mehr steigt der Anspruch an deine Aufmerksamkeit. Gelangweilt gucken, in deinem Sitz rumrutschen, auf dein Handy linsen, einen Snack holen, früher gehen - nicht dass du das alles nicht tun könntest, aber es zerrüttet die unausgesprochene Abmachung zwischen Darsteller und Publikum. Und vermutlich ziehen einen genau diese Zwänge und Ansprüche an; sonst könnten wir uns alle damit zufriedengeben, zu Hause in Unterwäsche Konzerte im Livestream anzuschauen.

"Eine Nacht" stand unter der Prämisse eines etwas anderen Vertrags zwischen Künstlern und Publikum. Ja, das Stück dauerte neun Stunden, und nein, keine Pausen, aber sie garantierten - im Werbetext und in der Ansage vor der Aufführung -, wir dürften jederzeit aufstehen und herumlaufen. Man saß auf Sofas und Sitzsäcken, konnte sich zu essen und zu trinken mitbringen, Kissen und Decken, und sie würden während der Aufführung Essen und Tee servieren. Es hieß: Wir sorgen für Sie.

Ich hatte am Vortag eine Zahnbehandlung gehabt und war morgens mit einem unangenehm geschwollenen Gesicht aufgewacht. Ich überlegte abzusagen, aber dann dachte ich, hey. Wenn es deren Ernst ist - dass es ihnen nichts ausmacht, wenn die Leute es sich bequem machen, aufstehen und sich Pausen gönnen, gehen, wenn es sein muss oder sogar einschlafen (eine Aufführung lief die ganze Nacht hindurch, aber unsere ging von 14 bis 23 Uhr) -, dann würde ich sie beim Wort nehmen, hingehen und zuhören, so gut ich konnte. Ich würde eine Maske tragen und nicht reden; wieso es sich nicht gemütlich machen und sich unterhalten lassen? So machte ich es also.

Ich fühlte mich wie versprochen, umsorgt, warm und schläfrig wie ein Kind

Etwa sieben der neun Stunden gingen gut vorüber: Ich fühlte mich weder künstlerisch herausgefordert noch herausfordernd schrecklich; ich fühlte mich einfach unterhalten. Im Lauf der Zeit wirkte dieses Gefühl der angenehmen Unterhaltung immer mehr wie eine große Leistung - ich war hauptsächlich überrascht, dass ich nicht gelangweilt war, was wahrscheinlich Lob und Kritik zugleich ist.

Dann, etwa in der siebten Stunde, wechselten die Schauspieler den Platz und waren jetzt hinten im Raum, und wie auf eine unausgesprochene Abmachung hin rutschten große Teile des Publikums von den Sofas auf den Boden und legten sich hin, mit den Köpfen auf den Sitzsäcken. Da war es etwa 21 Uhr, und obwohl ich nie einschlafe, fielen mir langsam die Augen zu, und so erlebte ich die Bereitschaft der Schauspieler, weiterzumachen und keine Ansprüche an meine Aufmerksamkeit oder auch nur mein Wachsein zu stellen, als schönes Geschenk. Ich fühlte mich wie versprochen, umsorgt, warm und schläfrig wie ein Kind. Es war magisch.

Und dann machten sie alles kaputt. In der allerletzten Stunde drehten sie alle Lichter an, weckten uns, sagten, jetzt sei die letzte Chance, aufs Klo zu gehen, und schoben uns auf die Sitze einer Tribüne ganz hinten, weshalb man nicht mehr aufstehen konnte, um zu pinkeln (oder ganz zu gehen), ohne peinlich durch die Aufführung zu laufen. Plötzlich saßen wir wieder in einem normalen Publikum, und das war ein normales Stück. Ich glaube, ich verstehe, warum sie das gemacht haben: Sie waren besorgt, dass die Leute gegen Ende allmählich rauslaufen würden, und wollten alle zusammenhalten, damit es den traditionellen Schlussapplaus geben könnte. Aber, oh Gott, war ich sauer. Ich saß schäumend, mit pochendem Gesicht da, bekam kaum mit, was um mich herum passierte, und zählte die Minuten, bis es vorbei war.

Ich hätte immer noch gehen können. Ich war ja nicht eingesperrt

Auf eine Art faszinierend. Theoretisch hätte ich ja immer noch aufs Klo oder nach Hause gehen können, genau wie davor; ich war ja nicht eingesperrt. Aber ich hatte wirklich das Gefühl, die hätten einen Vertrag verletzt, sie hätten etwas versprochen und dann nicht gehalten. Gerade noch war ich auf dem Boden gelegen wie eine schläfrige Prinzessin, und im nächsten Moment fühlte ich mich genötigt, ihnen meine Aufmerksamkeit zu schenken - nur durch den Umstand, dass sie sie forderten - und das nahm ich in jeder Minute übel.

Am Tag darauf reagierte ich so heftig auf meine Behandlung, dass mein Gesicht anschwoll, bis ich ein blaues Auge bekam, und drei Tage später hatte Sophie Covid, obwohl wir alle getestet, geimpft und maskiert gewesen waren - also gibt es offenbar genug Leid im Leben; kein Grund, sich selber in noch mehr davon zu verstricken. Und doch bin ich froh über diese Erfahrung, nicht wegen des Vergnügens, das ich hatte, sondern weil es mich über meine Erwartungen als Zuschauerin hat nachdenken lassen: Wie schnell ich zu glauben begann, ich habe ein Recht auf das Geschenk, das mir das Stück machte, und wie ärgerlich ich wurde, als es mir weggenommen wurde.

Aus dem Englischen von Marie Schmidt.

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