Süddeutsche Zeitung

Kolumne "Trans Atlantik Express":Wenn du dich wirklich anstrengst

Weinen in Händels "Messiah", sich anstecken, sich vom eigenen Vater isolieren: Gute Vorsätze fürs neue Jahr? Langsam reicht's, jetzt können sich mal die äußeren Umstände bessern.

Gastbeitrag von Kristen Roupenian

Am 19. Dezember startete ich mit zwei Blockbuster-Kulturevents in die Feiertage. Zuerst besuchte ich mit meiner Schwester, meinem Schwager und meiner vierjährigen Nichte eine Matinee des "Nussknackers", aufgeführt vom New York City Ballet. Ich habe den Nussknacker als Kind in Boston gesehen und hatte leise angenehme Erinnerungen daran, aber ihn in New York mit einem kleinen Kind zu sehen, war ein absolutes Vergnügen.

Vivian, meine Nichte, hatte Gerüchte gehört, dass es da Mäuse geben würde und wartete etwas ängstlich auf ihren Auftritt, aber als sie dann auf die Bühne kamen und eher albern als gruselig waren, entspannte sie sich, gab sich der Aufführung hin und versank völlig. Das Beste war, ihr zuzuhören, wie sie die Namen der Positionen rief, die sie aus dem Tanzkurs wiedererkannte. Ich bin sicher, die anderen Zuhörer waren auch ganz entzückt, in den ruhigen Momenten des Stücks ein feines Stimmchen piepsen zu hören: "Jeté! Arabesque! First position!"

Nachher sagte sie, sie wolle Zuckerfee werden, wenn sie groß ist, und ich hörte mich selber mit einer fremden, erwachsenen Stimme sagen "Wenn du dich im Ballettkurs wirklich anstrengst, wird dieser Traum vielleicht wahr!", damit sie sicher mir die Schuld gibt, wenn in zehn Jahren ihre Bänder gedehnt sind wie Gummi und sie keinen einzigen Kartoffelchip ohne Schuldgefühle essen kann. Aber kürzlich wollte sie noch Ärztin oder Schmetterling werden, wenn sie groß ist, da finde ich, Ballerina ist ein vernünftiger Mittelweg.

Danach fuhr ich zurück zu meiner Schwester und holte meinen 75-jährigen Vater ab, der an den Feiertagen bei ihr übernachtete, und ging mit ihm in die Riverside Church, weil wir Karten für Händels "Messiah" hatten, der dort von den New Yorker Philharmonikern gespielt wurde. Meine Familie lebt sehr verstreut - meine Schwester und ich sind jetzt beide in New York, das ist das erste Mal seit Jahren, dass jemand von uns in derselben Stadt wohnt.

Meine Eltern sind freundschaftlich getrennt, und meine Mutter lebt mit ihrem Lebensgefährten in Massachusetts; mein Vater außerhalb von Anchorage, Alaska, und mein Bruder in Utah. Wegen Covid und anderer Lebensereignisse war es das erste Weihnachten seit vier Jahren, an dem ich meine Familie sah, und ich war gleichermaßen gerührt und besorgt deswegen. Wir lieben uns sehr, aber es war nicht immer leicht, besonders mit meinem Vater.

Er war sehr aufgeregt, dass er den "Messiah" sehen würde, und die Aufführung entsprach allen unseren Erwartungen. Die Kirche ist natürlich überwältigend: eine echte Kathedrale. Die Dirigentin war eine Frau mit hellen roten Haaren namens Jeanette Sorrel, in die sich mein Vater offensichtlich sofort verknallte, und wer könnte ihm das übel nehmen: Sie führte die Musiker nicht nur mit dem Taktstock an, sondern mit ihrer ganzen Person. Es war wie dabei zuzusehen, wie Dirigieren in Ausdruckstanz übergeht. Der Gesang war schön, besonders die Stimme des Countertenors, die umwerfend und surreal war, wie keine menschliche Stimme, die ich je zuvor gehört hatte.

"Papa, bitte, es sind nur ein paar Tage, und du bist fünfundsiebzig."

Nach der Hälfte des Stücks etwa schaute ich rüber, und mein Vater weinte. Ich nahm seine Hand, und sie zitterte: Ich merkte in dem Moment, dass er sehr alt war, viel älter, als mir bewusst gewesen war; ich dachte daran, wie wenige Weihnachten uns wahrscheinlich noch bleiben, und trauerte um die, die wir in den letzten Jahren verpasst haben, war aber auch dankbar für dieses Mal.

Gegen Ende fing der Solist an, immer wieder zu singen: "We shall be changed / and we shall be changed", und da schluchzte ich, ich glaube, weil sich in diesem Jahr alles in meinem Leben geändert hat. Und ich muss mich ändern, ich will mich ändern, ich weiß, dass ich mich ändere, aber es gibt Tage, wo es einfach nicht schnell genug geht, ich kann mich nicht genug ändern, um mich dem Tumult meiner Lebensbedingungen anzupassen, und es fühlt sich alles an, als wäre es kaum auszuhalten. Ich war froh, in dieser Kirche zu sein, aber es fühlte sich auch an, als habe ich etwas überstanden, und als hätte ich mich vielleicht nicht so quälen müssen. Als hätte ich genug getan, und die Veränderung würde sich schon einstellen, wenn ich darauf wartete.

Lang musste ich nicht warten. Am nächsten Tag rief meine Schwester an und sagte, sie sei positiv auf Covid getestet. Sie ist geimpft wie der Rest der Familie, einschließlich meines Vaters. Aber das Familientreffen war natürlich abgesagt. Mein Vater weigerte sich, den Wunsch meiner Schwester zu respektieren, sich im Erdgeschoss zu isolieren, so lange sie Symptome hatte. Sie wurde ziemlich krank, und als sie ins Wohnzimmer kam, fand sie dort auf dem Sofa meinen Vater vor, der eine Maske trug, Fußball guckte und darauf bestand, Zeit mit seinen Enkelinnen zu verbringen, egal wie oft meine Schwester sagte: "Papa, bitte, es sind nur ein paar Tage und du bist fünfundsiebzig." Ich versuchte ihn zu überreden, dass er Weihnachten bei mir verbringen müsse, wir würden Essen bestellen und einen Film gucken, es wäre nicht das, was wir geplant hatten, aber es könnte schön sein, doch er sagte nur: "Schauen wir mal, schauen wir mal", deswegen wusste ich, er war entschlossen, Weihnachten mit meinen Nichten zu verbringen, egal was irgendjemand sagte, und wenn ich auf die Bitte meiner Schwester eingehen würde, sie ihre Quarantäne einhalten zu lassen, würde ich Weihnachten alleine verbringen.

Getrennt und nüchtern, vierzig Jahre alt und allein an Weihnachten

Das tat ich. Aber es spielte nicht wirklich eine Rolle, denn am 22. fühlte ich mich allmählich müde und stand neben mir, am 23. schoss das Fieber in die Höhe, und ich verbrachte die nächsten 24 Stunden delirierend, zitternd und kam nicht aus dem Bett. Als ich am ersten Weihnachtsfeiertag aufwachte, war das Fieber gesunken, und ich verbrachte den Tag auf dem Sofa, schaute Horrorfilme, zu erschöpft, um mir zu wünschen, ich könnte irgendwas anderes tun.

Abends schrieb mir mein Vater, um mir zu sagen, sie würden mir ein Weihnachtsessen schicken. Ich dachte, sie schicken es mit einem Uber-Fahrer, aber es klingelte an der Tür, und es war mein Vater mit einem Braten und Kuchen. Er wollte reinkommen. Ich sagte nein, aber er bestand darauf, weil ich ihm so leid tat, frisch getrennt und nüchtern und vierzig Jahre alt und allein an Weihnachten, und ich war zu vernebelt und müde, um hart dagegenzuhalten.

Also kam er rauf und wir saßen an gegenüberliegenden Enden des Zimmers mit Masken, ab und zu bekam ich einen Hustenanfall, und meine Erinnerung an den Abend ist eher verschwommen, aber ich weiß noch, dass er mich immer wieder fragte: "Und sonst so?" Als sollte ich ihm ein paar amüsante Anekdoten erzählen, aber mir fiel nichts anderes ein, als Bringe ich gerade meinen Vater um?, und der finstere Gedanke, dass ich zumindest meiner Schwester einen Gefallen tat, weil wir die Schuld zwischen uns aufteilen könnten, wenn er jetzt Covid kriegen würde. Schließlich ging er, und wenn ich ehrlich bin, war ich dankbar für den Kuchen, und ein anderes menschliches Gesicht gesehen zu haben, an diesem Weihnachtstag.

Das Bermudadreieck nennt man die Tage, an denen so viele rückfällig werden

Ich schreibe diese Kolumne am 1. Januar und auch, wenn ich gehört habe, dass einer von fünfzig Leuten in New York gerade Covid hat, scheint mein Vater nicht einer von ihnen zu sein, was ein Stückchen Glück ist, das keiner von uns verdient hat. In Alkoholiker-Selbsthilfegruppen nennen sie die Tage zwischen den drei Feiertagen - Thanksgiving, Weihnachten und Silvester - das Bermudadreieck, weil so viele Leute in dieser Zeit rückfällig werden. Teils freiwillig, teils der Umstände wegen habe ich alle drei Feste so ziemlich allein verbracht und keines davon wirklich gefeiert, und das war, um ehrlich zu sein, Scheiße, aber wenigstens habe ich nicht getrunken.

Ich habe neulich einen lustigen Tweet gelesen, der so ging: "Ich habe keine Neujahrsvorsätze, jetzt sind mal die Umstände dran, sich zu bessern", was es ganz gut zusammenfasst, denke ich. Ich hoffe, dieses Jahr ist anders, und ich hoffe, ich bin anders, aber was aktive Selbstverbesserung angeht, bin ich an meine Grenze gekommen, finde ich. Jetzt warte und hoffe ich. We shall be changed. Möge es so sein.

Aus dem Englischen von Marie Schmidt. Weitere Folgen der Kolumne "Trans Atlantik Express" finden Sie hier.

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