Süddeutsche Zeitung

Transatlantik Express: Die New-York-Kolumne:Ich wische mir das Herz raus

Der Traum vom romantischen Abend im Kino und was die verdammten Dating-Apps daraus gemacht haben.

Gastbeitrag von Kristen Roupenian

Seit ich nach New York gezogen bin, will ich ein Date im Film Forum haben. Es ist eines dieser Kinos, die eine Mischung aus neuen internationalen Filmen und Independentfilmen zeigen, nebst "sorgfältig kuratierten Klassikern". Eine der besten Seiten meiner bizarren neuen Karriere als Drehbuchautorin ist, dass ich von Leuten umgeben bin, die ihr Leben versunken in Filmen verbracht haben, wie ich meines in Büchern.

Ich liebe Filme - ich bin Filmfan - aber mein Gehirn ist mit Bücherregalen möbliert, nicht mit Filmen. So viele großartige Filme habe ich nie gesehen; von so vielen habe ich nicht einmal gehört. Manchmal fühle ich mich in Meetings deswegen wie eine Betrügerin, meistens aber auf die gute Art wie eine Amateurin. Ich darf neugierig und aufgeregt sein und von allen lernen. Ich muss keine Kenntnis vortäuschen, die ich nicht habe.

Es stimmt nicht ganz, dass "Filme mir das Leben gerettet haben", aber dieses Jahr haben sie es eben irgendwie doch getan. Eine trostlose Zeit, als ich mich fühlte, als habe ich alles kaputt gemacht. Durch sie sah es so aus, als könnte noch Gutes, Überraschendes geschehen, weil ich noch so viel zu lernen hatte.

Etwa einen Monat nachdem ich nach New York kam, als ich noch bei meiner Schwester in Tribeca wohnte, besuchte uns mein Vater, und ich lud ihn am Vatertag ins Film Forum ein. Wir sahen den Federico-Fellini-Film "8 ½". Mein Vater fand ihn nicht so toll, aber er nahm es sportlich. Ich dagegen war vollkommen hingerissen. Ich kam mit dem Gefühl aus dem Kino, ich habe gerade den Sinn des Lebens gefunden. Mein Kopf explodierte vor Ideen, und ich konnte kaum erwarten, mit jemandem darüber zu reden.

Die Person, die mir zu der Zeit am nächsten stand, war jemand, den ich als meinen "Filmfreund" betrachtete, weil ich ihn dauernd um Rat fragte, was ich als Nächstes anschauen sollte. Es war so lang her, dass er "8 ½" gesehen hatte, dass er sich nicht gut genug erinnerte, um eine Meinung zu haben, und es schien mir albern, so begeistert von einem Film zu sein, der bekanntermaßen gut war. Es war, als hätte mich jemand angerufen, um zu sagen: "Hast du von diesem großartigen Buch 'Krieg und Frieden' gehört?"

Seitdem träumte ich jedenfalls davon, ein Date im Film Forum zu haben mit jemandem, der danach endlos mit mir über den Film reden wollen würde, den wir gesehen haben.

Ich gab eine Weile mit meiner Karriere an, bis er entsprechend beeindruckt war

Im vergangenen Jahr hatte ich aus verschiedenen Gründen keine Dates: Einer ist, dass einem davon abgeraten wird, wenn man frisch trocken ist. Zweitens war ich fürchterlich zerstört nach meiner Trennung und drittens wahnsinnig verknallt in meinen Filmfreund, der mein limbisches System wohl für eine emotional sichere Bank hielt, weil er a) auf der anderen Seite des Landes lebte und b) überaus klar gemacht hat, dass er keinerlei romantisches Interesse an mir hat.

Wie es halt so ist, nachdem man eine Weile um jemanden rumgesprungen ist wie ein dämlicher Welpe und eine Menge unbezahlter Arbeit für ihn gemacht hat, während er einem von all den heißen L.A.-Szene-Girls erzählt, die er auf Raya, der Promi-Dating-App, trifft, fühlt es sich irgendwann emotional nicht mehr "sicher" an, sondern wie "Selbstsabotage". (Ich bin eben nicht so schlau, ok!?)

Als ich aus L.A. zurück war, sagte ich ihm also, dass ich etwas Abstand bräuchte von unserer Freundschaft (anders gesagt, dass ich aufhören würde, ihm gratis Filmideen zu überlassen, für die ich kleine Fetzen Lob und Aufmerksamkeit zurückbekam), und dann ging ich auf Tinder. Raya hatte mich abgelehnt. Ich muss wirklich rausfinden, wie man Instagram dazu bringt, mir dieses blaue Promi-Häkchen zu geben. Und ich wischte mir mein idiotisches kleines Herz raus, bis ich einen weiteren kleinen, dunklen, emotional eingeschränkten Mann gefunden hatte, der bereit war, stundenlang mit mir über Filme zu reden.

Mir hätte schon auffallen müssen, dass es eine blöde Idee war, als ich ihn nach seiner Abstinenz fragte, die er in seinem Profil erwähnte. Er antwortete: "Keine Sorge, ich bin kein Ex-Alki oder so", woraufhin ich sofort sagte: "Naja, ich schon, haha", weil ich es mag, wenn meine Beziehungen mit einem Klecks zwischenmenschlicher Peinlichkeit beginnen. Ich gab eine Weile mit meiner Karriere an, bis er entsprechend beeindruckt war und fragte dann, ob er mich im Film Forum treffen wolle. Ich wollte gern Ryūsuke Hamaguchis Film "Drive My Car" sehen, aber er schlug Akira Kurosawas "The Bad Sleep Well" vor und ich sagte zu, obwohl der erst um halb neun abends anfing, was bedeutete, dass ich lange nach meiner Schlafenszeit (zehn Uhr) wach sein würde.

Mein Date und ich leben beide in Brooklyn, aber in Vierteln von denen aus es eigentlich praktischer ist, sich in Manhattan zu treffen, wie wir es vorhatten. Wir beschlossen, uns früher zu treffen, um etwas zu reden, bevor der Film losginge. Ich war als Erste da, ging auf die Toilette und wartete, bis alle draußen waren, um meine Maske zu lüften und einen Blick in den Spiegel zu wagen.

Sofort erzitterte ich vor tiefer körperlicher Abscheu, während ich im Kopf rasend schnell jedes Detail überschlug, das mein wirkliches Selbst von den schmeichelhaften Fotos unterschied, die ich für meine Online-Selbstdarstellung ausgewählt hatte. Es war ja auch das erste Date mit einem Mann seit mehr als fünf Jahren, (ich hatte meine letzte Beziehung mit einer Frau), und in dem Moment wurde mir klar, dass ich den männlichen Blick nicht mehr anders als gnadenlos erleben konnte. Dass ein Mann meine Fehler nicht bemerken würde, konnte ich gerade noch glauben, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sie verzeihen würde. Oh Gott, dachte ich. Ich will dieses Date wirklich gar nicht.

Ich bin schlecht darin, Gesichter zu erkennen, es hätte ein völlig anderer Mensch sein können

Es war aber zu spät, um abzusagen, und ich ließ meine Maske auf mein Gesicht zurückschnappen und ging zum Warten in die Eingangshalle. Der Typ war zu spät, und es ging ein spielerisches Gekabbel hin und her, bis sich herausstellte, dass er wirklich zu spät war: Er war noch in Williamsburg, und der Film würde in zehn Minuten anfangen. Ich hatte dieses merkwürdige Gefühl, das eigentlich das Fehlen eines Gefühls war: Ich wusste, ich sollte verärgert und frustriert sein, aber ich wollte dieses Date ja eh nicht, also war ich es nicht..., bis darauf, dass ich es nicht mochte, Emotionen spielen zu müssen, die ich nicht hatte, also war ich es doch.

Ich schickte ihm ein Bild von den Eintrittskarten, wünschte ihm Glück und ging in den Saal, war aber so zappelig, dass ich nicht mitbekam, worum es in dem Film ging. Nach zwanzig Minuten kam ein offensichtlich nervöser Mann herein und fing an hin und her zu rennen und seinen Platz zu suchen. Vielleicht gibt es echt ein Problem mit den U-Bahnen, dachte ich. Sieht so aus, als wären viele Leute zu spät. Als der Typ fünf Minuten herumgelaufen war, dämmerte mir endlich, dass das mein Date sein musste.

Ich winkte ihm, und er setzte sich neben mich. Ich warf ihm verstohlene Blicke zu, als er seine Maske runterzog, um einen Schluck Cola zu nehmen, und versuchte zu erkennen, wie er aussah: Anders als auf seinen Fotos war sein Kopf kahlgeschoren, und er hatte keinen Bart oder Schnurrbart. Ich bin sehr schlecht darin, Gesichter wiederzuerkennen, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte das auch ein völlig anderer Mensch sein können.

Wir flüsterten uns ein paar Witze zu, von denen keiner wirklich zündete. Ich machte einen, den ich selber für einen super Witz hielt, aber man musste "Succession" gesehen haben, um ihn zu kapieren, und das hatte er nicht. (Falls es Sie interessiert: "The Bad Sleep Well" handelt im Grunde davon, wie es gewesen wäre, wenn Tom Wambsgans, indem er Shiv geheiratet hat, ein Doppelagent geworden wäre, um die Roy-Familie von innen zu zerstören). Außerdem dauerte der Film drei Stunden, weshalb ich völlig zerstört war vor Erschöpfung, als er zu Ende war, und dringend Schlaf brauchte.

Auf dem Weg nach draußen erzählte er, dass jemand sich vor den L-Train gestürzt hatte und sie so lange festgesessen hatten, dass er schließlich ausstieg, ein Citi Bike mietete, über die Williamsburg Bridge radelte und dann ein Uber zum Kino nahm. Ich war beeindruckt von seiner Hartnäckigkeit und dachte, es wäre oberflächlich, ihn dafür zu verurteilen, dass er kein einziges Haar im Gesicht hatte, also umarmte ich ihn und sagte, wir sollten uns wiedersehen.

Was hatte ich getan? War ich von Uber ausgeschlossen worden?

Ich stieg in die U-Bahn und fühlte mich rau, traurig und einsam. Der Heimweg dauerte dreißig Minuten, und es war schon elf vorbei. Aus keinem erkennbaren Grund blieb die Bahn vier Haltestellen vor meiner einfach stehen, also stieg ich aus und rief ein Uber. Das erste Uber stornierte die Fahrt, also rief ich noch eins, das fünfzehn Minuten entfernt war. Ich hatte Kopfhörer auf und glotzte mit glasigen Augen an den Junkies vorbei, die zu mir kamen, um nach einem Dollar zu fragen.

Vierzehn Minuten und dreißig Sekunden später bog das zweite Uber um die Ecke und gerade als ich die Straße überquerte, um einzusteigen, stornierte es und fuhr davon. Da stand ich, fassungslos und am Boden zerstört, als sei ich versetzt worden. Ich verstand nicht, was passierte. Ich versuchte ein drittes Uber zu rufen, und dieses komische Fenster poppte auf, es hieß, ich solle ein Foto von mir mit Maske machen, aber wenn ich es tat, wurde das Foto abgelehnt. Was hatte ich getan? War ich von Uber ausgeschlossen worden? Wie sollte ich noch irgendwo hin kommen?

Ich hatte keine Wahl: Ich lief eine halbe Stunde zu Fuß nach Hause und als ich endlich die Tür aufmachte, war ich so glücklich wie noch nie im Leben, meine Katze zu sehen. Ich schwor ihr, nie wieder die Wohnung zu verlassen, sei's drum, Kulturkolumne. Dann kroch ich ins Bett und schlief ein.

Am nächsten Morgen wachte ich um sieben Uhr auf, rannte ins Bad und kotzte mir über dem Klo die Seele aus dem Leib. Ich habe mich nicht so hart übergeben, seit ich aufgehört habe zu trinken. Dann ging ich wieder ins Bett und schlief nochmal acht Stunden. Ich heulte einer Freundin am Telefon etwas vor, wie furchtbar alles war, und dass ich krank und allein war und niemand hatte, der sich um mich kümmerte, wenn ich krank war, weshalb sie mir Suppe nach Hause liefern ließ. Hätte ich natürlich selbst auch gekonnt, aber es war sehr, sehr süß von ihr.

Signal des Universums: Ich sollte mich nicht nochmal mit dem Typen verabreden

Als am nächsten Morgen alles wieder gut war, dachte ich, es müsste psychosomatisch gewesen sein, aber eine andere Freundin, eine Ärztin, sagte, starkes Übergeben sei gewöhnlich kein Zeichen von Stress, also habe ich vielleicht eine Lebensmittelvergiftung gehabt. Wie dem auch sei, ich nahm es als Signal des Universums, dass ich mich nicht nochmal mit dem Typen verabreden sollte, ich schrieb es ihm, und er nahm es sportlich.

Ich habe nie herausgefunden, was mit Uber los war. Ein paar Wochen lang benutzte ich Lyft, und jetzt scheint es wieder zu funktionieren. Tinder habe ich gelöscht und neu geladen und dann wieder gelöscht, und Instagram habe ich zur Sicherheit auch gelöscht. Keine Ahnung, wann ich wieder bereit bin, zu daten, wenn überhaupt. Seit meiner Trennung ist ein Jahr vergangen, aber mein Herz dieses ganze Jahr lang zu ergießen, war offenbar nicht das beste Heilmittel.

Ich weiß, ich kann ins Film Forum gehen, wann ich will, allein oder mit Freunden, aber in Wahrheit war nur die Vorstellung davon wichtig: Es gibt jede Menge bequemere coole Independent-Kinos in Brooklyn für mich.

Aus dem Englischen von Marie Schmidt.

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