Krisen und Stadtplanung:The Great Stink

Krisen und Stadtplanung: Das britische Parlament in London. Politiker forderten 1858, London sollte endlich von den "bösartigen Ausdünstungen" der Themse befreit werden.

Das britische Parlament in London. Politiker forderten 1858, London sollte endlich von den "bösartigen Ausdünstungen" der Themse befreit werden.

(Foto: AP)

Mitte des 19. Jahrhunderts schuf der Ingenieur Joseph Bazalgette in London das modernste Abwassersystem der Welt. Es war bitter nötig - und funktioniert bis heute.

Von Alexander Menden

Bevor 2012 im Londoner Lea Valley die Olympischen Spiele abgehalten wurden, war das einzige architektonisch bedeutende Gebäude dort die "Abbey Mills Pumping Station". 1868 nahm das Pumpwerk des viktorianischen Ingenieurs Joseph Bazalgette den Betrieb auf. Die wegen ihres prunkvollen neo-byzantinischen Stils auch "Abwasser-Kathedrale" genannte Station ist, neben der etwas älteren Crossness Pumping Station südlich der Themse, einer der wenigen Orte, an denen man oberirdisch eine Ahnung von der Genialität Bazalgettes erhält. Denn sein Lebenswerk liegt unter der Stadt: Bazalgettes hat das damals modernste Abwassersystems der Welt geschaffen.

Dieses war der wohl bedeutendste Beitrag zur Verbesserung der Volksgesundheit in der Geschichte Londons, es veränderte ebenso dramatisch wie nachhaltig Aussehen und Nutzung der städtischen Themseufer und legte einen der Grundsteine für die gesamte spätere Entwicklung der britischen Metropole. In Zeiten einer Pandemie, die nicht zuletzt moderne stadtplanerische Konzepte auf den Prüfstand stellt, lohnt sich ein Blick darauf, wie die "Victorian Sewers" zustande kamen.

Ihre Errichtung verdankte die Pumpstationen dem besonders heißen Londoner Sommer des Jahres 1858. Parlamentsabgeordnete, die noch nicht aufs Land geflohen waren, stolperten nach Luft ringend durch die neugotischen Korridore des erst wenige Jahre zuvor neu errichteten Palace of Westminster. Der Geruch, der von der nahen Themse aufstieg, war so bestialisch, dass 1858 als "The Great Stink" in die Geschichte einging - der "Große Gestank". Die Times urteilte: "Man kann nicht mehr drum herum reden - es stinkt, und wer diesen Gestank einmal eingeatmet hat, wird ihn nie vergessen, und kann sich glücklich schätzen, ihn zu überleben." Nicht einmal mit Calciumhypochlorit getränkte Vorhänge konnten die Parlamentarier davor schützen. Und wie so oft, wenn ein Problem die Politiker selbst betraf, fällten sie nun erstaunlich rasch eine Entscheidung, die sie lange vor sich hergeschoben hatten: London sollte endlich von den "bösartigen Ausdünstungen" des Flusses befreit werden.

Charles Dickens beschrieb den Fluss in "Little Dorrit" als "tödliche Kloake"

"Father Thames" war schließlich nicht nur wichtigste Handelsroute und bedeutendste Verkehrsader Londons, sondern auch, ähnlich den Flüssen vieler großer Städte, eine biologisch tote Abwasserrinne. Es gab zwar ein Abwassersystem, aber alles, was es transportierte, menschliche und tierische Ausscheidungen sowie Industrieabwässer, floss aus Rohren in den städtischen Böschungen direkt in die Themse. Charles Dickens beschrieb den Fluss in "Little Dorrit" als "tödliche Kloake".

Bereits 1815 war London mit 1,4 Millionen Einwohnern die größte Stadt der Welt gewesen. Vierzig Jahre später hatte sich diese Bevölkerungszahl mehr als verdoppelt. Weder die Infrastruktur noch die ungeplante Bebauung waren dem gewachsen. Von 1851 an wurden zudem Wasserklosetts in immer mehr Häuser eingebaut, was dort zwar zu angenehmeren sanitären Bedingungen führte, den unregulierten Abwasserzufluss zur Themse aber noch verschlimmerte. Bei Hochwasser spülte der Fluss die Jauche in die Straßen zurück, und mit ihr eine Unzahl von Erregern von Krankheiten wie Typhus, Ruhr und der gefürchteten Cholera. Mehr als 6000 Londoner fielen von 1831 bis 1832 der ersten großen Cholera-Epidemie zum Opfer, der zweiten von 1848 bis 1849 sogar 14 000, in einer weiteren starben von 1853 bis 1854 noch einmal gut 10 000 Menschen.

Der Arzt John Snow beendete die Ausbreiung der Cholera in Soho

Während dieses letzten großen Cholera-Ausbruchs stellte der Arzt John Snow einen Zusammenhang zwischen den überlaufenden Sickergruben im damaligen Elendsviertel Soho und dem Tod von 500 Menschen in der Gegend um die Broad Street her. Obwohl man allgemein annahm, die Krankheit werde durch "üble Dämpfe" übertragen, glaubte Snow an eine Ansteckung durch das Trinkwasser. Er ließ den Schwengel der Wasserpumpe in der Broad Street abmontieren, und beendete damit binnen kürzester Zeit die Ausbreitung der Cholera in Soho. Doch erst 1858, dem Todesjahr Doktor Snows, wurde jene gigantische Hygienemaßnahme ins Werk gesetzt, die bemerkenswerterweise bis heute das Rückgrat der Londoner Abwasserwirtschaft bildet - den Bau einer effizienten neuen Kanalisation.

Joseph Bazalgette, ein 39-jähriger Eisenbahningenieur mit einiger Erfahrung in Landentwässerung und -gewinnung, leitete damals das erst 1856 gegründete London Metropolitan Board of Works. Es war die erste Organisation, die Baumaßnahmen in der Stadt zentral und einheitlich regelte, und der nun drei Millionen Pfund zur Verfügung gestellt wurden, um sofort mit den Arbeiten an Straßenverbesserungen und Abwasserkanälen zu beginnen. Bazalgette hatte vorausschauend bereits 137 verschiedene Konzepte für ein System gesichtet, das die Abwässer östlich der Stadt an einer Stelle in die Themsemündung leiten sollte, an der die Gezeiten sie nicht wieder zurückspülen würden. Nun konnte er den besten dieser Pläne umsetzen.

In den folgenden acht Jahren entstanden sechs Sammelkanäle mit einer Gesamtlänge von 160 Kilometern, gespeist von 720 Kilometern Haupt- und annähernd 21 000 Kilometern kleinerer Abwasserkanäle. Die Sammelkanäle verlaufen bis heute parallel zur Themse und führen sowohl Abwasser als auch Regenwasser mit sich. Insgesamt wurden 318 Millionen Ziegel und 670 000 Kubikmeter wasserfesten Portland-Betons verbaut. Bazalgette machte sich dabei sowohl Gefälle und Schwerkraft als auch einige unterirdisch verlaufende kleinere Flüsse zunutze. Dort, wo die natürlichen Gegebenheiten nicht ausreichten, wie in Abbey Mills und Crossness, errichtete er Pumpstationen. Abwässer und Gestank verschwanden erst unter der Erde, dann, jenseits bebauter Gebiete, in der Themsemündung, und schließlich im Meer. Kläranlagen wurden erst in den 1880er Jahren errichtet.

London hat mittlerweile fast neun Millionen Einwohner - Bazalgettes Infrastruktur hält

In London selbst gab es nur noch einen einzigen Cholera-Ausbruch, und zwar 1866 im East End, das zu diesem Zeitpunkt als einziger Bezirk noch nicht an Bazalgettes Kanalisation angeschlossen war. Zugleich ermöglichte die Abwasserregulierung am Themseufer die Anlage von Straßen, Parkanlagen und Tunnel für die neue Untergrundbahn. Hierzu dämmte Bazalgette den Fluss weiter ein und schuf anstelle des Gezeitenschlamms Uferpromenaden wie das Chelsea, das Albert und das Victoria Embankment.

Aus heutiger Sicht ist nicht nur die Präzision und Geschwindigkeit der Bauarbeiten bemerkenswert, sondern vor allem die weit in die Zukunft blickende Planung. Joseph Bazalgette legte die Kapazitäten der Kanalisation für eine um die Hälfte größere Stadtbevölkerung aus, also etwa viereinhalb Millionen. Mit welcher bewundernswerten Nachhaltigkeit hier konstruiert wurde, lässt sich daran ablesen, dass Bazalgettes Infrastruktur auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch immer die Hauptlast der Entwässerung Londons trägt - einer Stadt mit mittlerweile annähernd neun Millionen Einwohnern.

Doch selbst dieses Wunder der städtebaulichen Ingenieurskunst stößt immer öfter an seine Grenzen. Der Niederschlag hat sich, bedingt durch den Klimawandel, deutlich erhöht. Zugleich wurden immer mehr Flächen versiegelt, in denen überschüssiges Regenwasser früher hätte versickern können. Hinzu kommt, dass tonnenschwere "Fettberge" die viktorianischen Röhren verstopfen. Mitte des 19. Jahrhunderts konnte niemand ahnen, welche Unmengen an Frittierfett, Windeln, Kondomen und Damenbinden sich dereinst in die Kanalisation ergießen würden.

Was man aus den Umwälzungen lernen kann, die auf den "Great Stink" folgten, ist vor allem eine Haltung - die rasche, flexible Reaktion auf sich wandelnde stadtplanerische Herausforderungen, einschließlich nie dagewesener, akuter Notlagen.

Zur SZ-Startseite
Coronavirus - Paris

SZ PlusCorona-Pandemie
:Die Kehrseite der Urbanisierung

Städte trifft das Coronavirus deutlich härter als das Land. Wie die Pandemie alles, was Metropolen lebenswert und erfolgreich macht, in ein Horrorszenario verwandelt.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: