Treffen sich zwei Alter Egos eines Schriftstellers in einem Wiener Stiegenhaus. Sagt der eine: "Fahren Sie wieder nach Venedig?" Sagt der andere: "Ja." Darauf der erste: "Ich arbeite gerade an einem Kriminalroman, der in Venedig spielt, in dem Sie vorkommen." Das ist die Konstellation in Gerhard Roths jüngstem Opus "Die Irrfahrt des Michael Aldrian".
Bei den Alter Egos handelt es sich einerseits um den Titelhelden mit dem klangvollen Namen, andererseits um Philipp Artner, den grausam pulverisierten, dann wundersam auferstandenen Protagonisten des Roth-Romans "Grundriss eines Rätsels" aus dem Jahr 2015. Schon in diesem Werk wurde offenbar, dass der steirische Autor, der im Laufe von Jahrzehnten in zwei gewichtigen Romanzyklen, ergänzt um Bild- und Essaybände, seine eigene Biografie sowie die politische Geschichte Österreichs aufgearbeitet hat und sich dabei stets lebhaft für Böses und Mysteriöses interessierte, mit dem leichteren Suspense-Fach liebäugelt. Nun, da er 75 geworden ist, im selben Jahr wie Donna Leon, die Königin des Venedig-Krimis, legt er eine "venezianische Verbrechensgeschichte" vor, und zwar als ersten Band einer Trilogie. Für seine Leser bedeutet das, dass sie sich warm einpacken sollten, denn Venedig kann sehr kalt sein, und ein winterlicher Aufenthalt in der Lagunenstadt kann sich, wie Roth auf knapp 500 Seiten beweist, ganz schön in die Länge ziehen.
An diesem Ort ist Karneval, doch es gibt auch Hochwasser, Nebel und Schneegestöber
Philipp Artner also bleibt in Wien zurück und schreibt vermutlich den Roman, den wir gerade lesen. Sein Nachbar Michael Aldrian hingegen, ehemals Souffleur oder auch "Maestro Suggeritore" an der Staatsoper, wegen eines Hörsturzes von seiner geliebten Tätigkeit suspendiert und deshalb in einer Existenzkrise, nimmt den Nachtzug nach Venedig. Im Schlafwagen hängt er, soweit ihn sein angetrunkener Abteilnachbar dazu kommen lässt, seinen Lebenserinnerungen nach. So sind wir bald darüber im Bilde, dass er nicht nur ein verkanntes musikalisches Talent, sondern obendrein ein begnadeter Hobbyzauberer ist, während sein Bruder Jakob, ein hochbegabter Zeichner, die Laufbahn des Insektenkundlers einschlug, und dass der berühmte Bienenforscher Karl von Frisch für die beiden Knaben eine Art Mentor war, der ihnen das Wesen der Metamorphose und der Mimikry erläuterte.
Möglichst viel auf einmal, das ist Gerhard Roths literarisches Prinzip: viel Stoff, viel Gelehrsamkeit, viele Fakten, viel Dekoration. So lässt er seinen Reisenden in einem Venedig ankommen, das nicht nur vom Karneval, sondern gleichzeitig von Extremhochwasser, Nebel und Schneegestöber heimgesucht ist. Wie gut, dass das Haus des Bruders, der in der Nähe des Rialto-Marktes einen Laden für Muscheln, Meeresschnecken, Tierschädel, präparierte Schmetterlinge, Fossilien und Perlenschmuck betreibt (auch ziemlich viel), zufällig in einer Trockenzone liegt. Seit jeher darf der Ex-Souffleur, wenn er in Venedig ist, dort im Gästezimmer logieren. Und seit zehn Jahren plant er, einen "unkonventionellen Reiseführer" zu schreiben, in dem er die Stadt "wie ein Pathologe sezieren" will: Hat sie doch ein Gehirn, das in Archiven und Bibliotheken schlummert, einen Bauch, den sie auf dem Fischmarkt und in tausend Esslokalen heraushängt, und ein Adernnetz in Gestalt ihrer Kanäle.
Wir erinnern uns, dass der Arztsohn Gerhard Roth vor seiner Schriftstellerkarriere einige Semester Medizin studierte. Viel länger noch arbeitete er als Operator und Organisator am Rechenzentrum Graz, und auch das kommt einem mitunter in den Sinn, wenn man von seinem penibel registrierenden Detailblick und der Akribie seiner Aufzählungen schier erschlagen wird. Bei der Verbrechensaufklärung mögen diese besonderen Gaben von Nutzen sein, für die Konstruktion einer Krimihandlung erweisen sie sich eher als hinderlich. Gerhard Roth versucht es trotzdem, aber man könnte meinen, dieses Projekt sei ihm fast lästig, da er selbst lieber besagten Reiseführer geschrieben hätte. Also: Bruder Jakob ist samt Gattin Elena spurlos verschwunden. Bruder Michael spielt Detektiv, wird bei seinen Streifzügen durch die schwer karnevalisierte Stadt zuerst niedergeschlagen und beraubt, dann von sinistren Verfolgern mit oder ohne Maske bedrängt, bis er den Spieß umdreht. Am Ende gibt es mehrere Leichen, eine abgehackte Hand wird im Karton verschickt, und die Lösung des Rätsels liegt in mafiösen Verstrickungen, bei denen es schlicht um viel Geld geht.
Das Ganze lässt einen jedoch, trotz des spektakulären Schauplatzes und einer etwas betulich eingeflochtenen Liebesgeschichte (die Dame heißt wahrhaftig Beatrice!), recht kalt, und das nicht nur wegen des Winterwetters. Spannung will kaum aufkommen, weil der Verbrechensplot weder Hand noch Fuß hat. Aber noch ermüdender wirkt, dass der Autor, der ja mit lauter Klischees jongliert, dabei völlig humorlos vorgeht. Seine eigentliche Stärke liegt in den enzyklopädischen Partien: Ob im venezianischen Staatsarchiv oder im Dogenpalast, im Museo Fortuny oder im Caffè Florian, in der Biblioteca Marciana oder auf der ehemaligen Psychiatrie-Insel San Servolo - der Cicerone Roth inventarisiert gewissenhaft und lässt sich dabei von kompetenten Stimmen unterrichten. Zwar kann man dergleichen auch in anderen essayistischen Reiseführern lesen, aber dieser, zum Teil sogar bebildert, ist nicht der schlechteste. Jedenfalls für die historischen Orte, denn das heutige, reale Venedig kommt nicht vor, obwohl Namen von Plätzen, Gassen, Geschäften und Gaststätten fast penetrant wiederholt werden.
Schließlich bleibt ein leichtes Befremden zurück - darüber, dass ein vielfach preisgekrönter Schriftsteller sich in erzählenden Passagen einer so glanzlosen, oft unbeholfenen Diktion bedient. Und dass ihm, dem Venedig-Kenner, solche Fehler unterlaufen: Das Deckengemälde in der Kirche San Pantalon, das sein Held liebt, ist kein "Fresko", wie es im Buch immer wieder heißt, sondern Öl auf Leinwand. Ein Streich von Philipp Artner? Auch einem Alter Ego darf man nicht alles durchgehen lassen.