Literatur:"Der Aufbruch" von Carsten Stroud: Nichts mehr nett in Niceville

Vehicles pass a Halloween scarecrow fitted with a rain poncho as Hurricane Sandy hits Easton, Maryland

Auf nichts mehr ist Verlass: Wetter und Fauna, vor allem die vielen Krähen spielen verrückt. Halloween-Vogelscheuche in Easton, Maryland.

(Foto: Kevin Lamarque/Reuters)

Carsten Stroud ist der Punk der Thriller-Literatur. Seine Trilogie um eine von bösen Mächten heimgesuchte Stadt schließt er furios ab.

Buchkritik von Bernd Graff

Irgendetwas stimmt mal wieder nicht in Niceville. Der eigentlich so beschauliche amerikanische Ort, irgendwo stehen geblieben in den Vierzigerjahren, war ja schon zweimal von mörderischen Kräften heimgesucht worden, die man nicht anders als unbegreiflich, ungreifbar, irrational, gespenstisch bezeichnen kann. Diesmal ist es auch wieder so. Die Leute scheinen nun alle komplett durchzudrehen; auf nichts ist mehr Verlass, Wetter und Fauna, vor allem die vielen, vielen Krähen, spielen verrückt, die Erde tut sich auch noch auf und verschluckt einen Jugendlichen - nicht ohne ihn vorher zerquetscht und zermahlen zu haben. Jedenfalls von der Hüfte abwärts.

Vor seinem Tod in der finsteren, durch Erdrutsche geborstenen Zisterne, die ihm zum Verhängnis wurde, kann der Junge allerdings noch gestehen, dass er an dem nur augenscheinlich friedlichen Samstagnachmittag ein tatsächlich friedliches Rentner-Ehepaar bestialisch ermordet hat. Die dahinscheidende Hälfte war, jedenfalls solange sie noch sprechen konnte, sogar in der Lage gewesen, von einem Mord-Auftrag zu sprechen, den eine innere Stimme , "die Wespe", erteilt habe. Auch in den Schulheften und Tagebüchern des Mordbuben, die man dann findet, ist von dieser Wespe die Rede, und auffällig ist, dass die schulischen Leistungen des Knaben sich ziemlich genau von dem Moment an dramatisch verschlechtert hatten, in dem er die Wespe erstmalig erwähnt.

Während Nick Kavanaugh, der müde Chef-Ermittler und seine Polizeitruppe sich überhaupt keinen Reim auf Mord, Krähen, Wind und Wetter machen können - irgendwann muss man sogar über die Gefahr nachdenken, die von einem Fluss ausgeht -, passiert in einem Horrorstakkato Schlag auf Schlag noch folgendes: Eine weitere Familie wird ebenso brutal gemeuchelt wie das Rentner-Ehepaar, die kleinen Kinder inbegriffen. Der Wespen-Mörder war schon tot, als dieses Massaker stattgefunden hat.

Ein polnischer Autoverkäufer läuft Amok, ein Polizist erschießt einen Jugendlichen auf offener Straße. Einfach so. Ein erfahrener Cop, ein abgebrühtes Schlachtross eigentlich, stellt sich unablässig die Frage, ob er eigentlich nicht schon längst tot ist. Ein finsterer See wird mit beruhigender Musik beschallt, das soll helfen, alte Geister abzuwehren - oder sie anzulocken? Und es ist leider auch nötig, einer Rettungssanitäterin von hinten in die Halsschlagader zu schießen. Völlig derangierte menschliche Knochen tauchen dann auf. Und die schöne Delores, die alle nur für ein wandelndes Centerfold und das schicke It-Girl des leider verblichenen Mafiabosses halten, hat ihre fünf Sinne beisammen und ist daher ziemlich gut darauf vorbereitet, dass ein nackter Killer mit einem langen Messer vor ihrer Schlafzimmertür auf sie wartet.

Wie gesagt: Die Leute drehen durch. Doch was steckt dahinter? Kavanaugh tappt keuchend wie ein Stepptänzer von einem Fall zum nächsten. Kaum hat er einen heißen Tatort erreicht, wird er schon zu einem weiteren Blutbad gerufen. Und dann verschwindet auch noch sein Ziehsohn, der Neffe seiner Gattin, mit dem mysteriösen Findelkind, dessen Alter so undefinierbar ist wie seine Absichten. Nein, nichts ist nett in Niceville.

Herzerfrischend friedhofsschwarzer Humor

Carsten Stroud hat die Trilogie um die fiktive Stadt im Süden der USA ersonnen, deren letzter Teil nun vorliegt. Das Personal zieht sich durch, die einzelnen Teile kann man aber separat lesen. Neben Kavanaugh und dem weiteren Kreis seiner Familie spielen die Besitzer einer seit Jahrhunderten bewirtschafteten Plantage, ihre Vorfahren und die Belegschaft eines abgewirtschafteten Irrenhauses in allen Teilen eine Rolle, doch ist der Gesamtplot viel zu atemlos und so spektakulär gehetzt, dass man niemandem eine herausgehobene Bedeutung zuschreiben kann. Das gilt, die Ermittler ausgenommen, eigentlich für alle Ortsansässigen. Man hat den Eindruck, die gesamte Bevölkerung Nicevilles klopft mit Mann, Maus und FBI-Agenten an die Türen eines namenlosen Grauens, um sich die ihr zustehende Portion am Gemetzel jeweils persönlich abzuholen.

Diese Mixtur aus "Southern Gothic", mystischem Suspense, dem Flirt mit dem metaphysischen Nichts und Tarantinotauglicher Abschlachtung könnte man als grotesk überladen abtun, wenn Stroud nicht über einen herzerfrischend friedhofsschwarzen Humor verfügte. Der Kanadier ist zweifellos der bunteste Punk im Gruselkeller der nihilistischen Literatur. Schon seine Kapitelüberschriften sind beispiellos: "Wenn alle Panik kriegen, nur du nicht, hast du die Situation nicht begriffen", "Istriern sind ihre Augenlider ziemlich wichtig", "Ist es in Ordnung, kleinen Kindern Hasenohren anzutackern?", "Die Bereitschaft, sich selbst den Kopf abzutrennen, nimmt ungefähr auf halbem Weg dramatisch ab".

Es ist, als ob der Autor nicht nur seine Geschichte erzählen, sondern in jedem Satz auch noch eine schaurig provokante Pointe unterbringen wolle. Hier hat gerade so etwas wie ein Verhör stattgefunden: "Am Ende hatte Coker alles erfahren, was er wissen wollte, der Mann flog durchs Badezimmerfenster und hatte in den elf Sekunden freien Falls etwas Zeit, um zu einem tieferen Verständnis über die Welt und über seinen Platz darin zu gelangen, der, wie sich nach seinem Aufprall als Meteor mit Gänsehaut und voller Gedärme herausstellte, offenbar das Dach eines Dixie-Klos war."

Dieses sprachlüsterne Konglomerat aus elaborierter Leichenfledderei, hanebüchenem Hokuspokus und schwarzer Galle muss man mögen. Man kann es auch mögen, wenn man den Spaß an der schnoddrigen Formulierung und nicht so sehr einen packenden Plot schätzt. Den gibt es hier zwar definitiv, aber delirierend und ins Abstruse übersteigert. Die meisten Thriller könnten gut und gerne von dem zehren, was Stroud auf eine einzige Seite packt.

Am Ende der Trilogie haben die Bösen endgültig den Verstand verloren, was gut ist, denn das Gute hat dann ja wohl gesiegt. Aber vermutlich nur für den Moment. Es könnte also weitergehen in und mit Niceville. Vielleicht als TV-Serie, wenn sie es denn schaffte, nicht nur den Plot einzufangen, sondern auch das Vergnügen, ihm bis ins Nirgendwo zu folgen.

Cover Der Aufbruch Carsten Stroud

Carsten Stroud: Der Aufbruch. Roman (Niceville-Trilogie, Band 3). Dumont Buchverlag, Köln 2015. 544 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.

(Foto: Dumont)
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