Kriegsbilder im Internet:Sekunden vor dem Kopfschuss

Kriegsbilder im Internet: Aufnahmen aus Syrien, die jeder auf Youtube finden kann. Die meisten der Kämpfer sind hier nur wenige Augenblicke vor ihrem gewaltsamen Tod zu sehen.

Aufnahmen aus Syrien, die jeder auf Youtube finden kann. Die meisten der Kämpfer sind hier nur wenige Augenblicke vor ihrem gewaltsamen Tod zu sehen.

(Foto: oh)

Auf Youtube kann man Menschen in Kriegsgebieten täglich beim Sterben zusehen. Die Aufnahmen werden mit jedem Konflikt zahlreicher, schneller veröffentlicht und grausamer. In der Öffentlichkeit bleibt die neue Bilderflut jedoch seltsam wirkungslos.

Von Johannes Boie

Was man sieht: drei kaputte Autos auf einer Straße, ein rotes, in das sich ein weißes verkeilt hat, ein schwarzer Pick-up-Truck. Am Rande der Straße brennt etwas, vielleicht ein Reifen. Vor dem roten Auto, das dem Betrachter am nächsten ist, robbt ein Mann auf einem Stück Pappe, er versucht, den weißen Wagen zu erreichen. An der Pappe ist ein blaues Seil befestigt, offenbar, damit die Kameraden seinen Körper zurückziehen können, falls er erschossen wird. Sie stehen hinter einer Ecke, schießen in die Richtung des Gegners, sie feuern in die Luft, sie rufen: Allahu Akbar, Allah ist am größten.

Aber falls Gott sie hört, dann prüft er seine Anhänger in diesem Moment schwer. Der Mann erreicht jetzt den weißen Pkw, er zerrt unter heftigem Beschuss einen Schwerverletzten aus dem Wagen und beginnt, langsam zurück in Richtung seiner Kameraden zu robben. Der Verletzte wurde angeschossen, während er sein Auto fuhr. Das Feuer am Straßenrand brennt jetzt lichterloh, pechschwarzer Rauch verdeckt die Sicht. Die Kameraden ziehen mit aller Kraft am Seil, um die Männer aus der Schusslinie zu zerren, sie schießen in Richtung des Gegners, doch sie sind zu langsam. Die robbenden Männer werden von Kugeln getroffen, ihre Körper zucken im Straßenstaub. Der verletzte Autofahrer stirbt im Kugelhagel, während der Mann, der ihn retten wollte, sich noch hinter die Straßenecke wälzt, um zu sterben.

Der Zuschauer weiß nicht, wer hier tötet

Diese Szenen sind in einem Youtube-Video zu sehen, das seiner Beschreibung nach vor ein paar Monaten in Syrien aufgenommen wurde. Wer stirbt hier? Wer tötet den Verwundeten? Wer sind die Kameraden - Kämpfer des Terrorregimes IS, Angehörige der Al-Nusra-Front oder Assad-Anhänger? Der Zuschauer weiß es nicht, er weiß nur: Diesen Krieg kann man nahezu live miterleben, ungefiltert. Mit Bildern, die man in keiner Zeitung findet.

Ein Junge redet mit seinen Freunden, sie sind mit automatischen Gewehren bewaffnet, sie stecken mitten im Kampf um Leben und Tod. Und trotzdem hat ihre Aufnahme ein wenig von der Unbekümmertheit eines Handyvideos, wie jugendliche Kumpels es miteinander drehen würden. Doch kippt der Kopf des Jungen, der ganze Körper fällt zu Boden, und man realisiert: Gerade hat ihn ein Scharfschütze getroffen. Er ist sofort tot. "Allahu Akbar", schreien seine Freunde entsetzt, ihre Stimmen klingen hohl. Einer filmt weiter.

Vielleicht war der Tote ein Terrorist, vielleicht wollte er seine Heimat vor Terroristen schützen, man weiß es nicht. Man sieht nur: Das ist der Krieg. Diese Aufnahmen stehen auf den einschlägigen Portalen wie liveleak.com, wo dem Veröffentlichungsdrang der Menschen keine Grenzen gesetzt werden, auf den Seiten irgendwelcher Extremisten, die jede Aufnahme im Sinne ihrer Propaganda umdeuten und einordnen, sie stehen aber auch auf Youtube und in den Blogs irgendwelcher Schüler aus den USA oder Deutschland, die einfach nur "krasse Bilder" sammeln, um auf dem Schulhof anzugeben.

Viele werden von dem amerikanischen Unternehmen Site aus dem Netz gefischt, technisch bearbeitet und mit einem Kommentar versehen. Site berät nach eigenen Angaben die amerikanische Regierung und stellt Journalisten digitales Material aus Kriegsgebieten zur Verfügung, ergänzt um Analysen und Einordnungen.

Grausamer Mord oder gerechte Notwehr?

Vor allem aber werden diese Videos von irgendwelchen Menschen aus den Konfliktregionen rund um die Welt hoch- und heruntergeladen, sie kursieren im Netz. Gelegentlich findet man dasselbe Video auf unterschiedlichen Seiten, mit unterschiedlichen Angaben - einmal soll die Aufnahme einen grausamen Mord an einem Unbewaffneten zeigen, dann wieder gerechtfertigte Notwehr gegen einen Terroristen. Wer sich mit dem Konflikt nicht im Detail befasst, kann nur raten, was ihm da geboten wird.

Es gibt Aufnahmen aus dem Ort Kobanê, der in Syrien an der türkischen Grenze liegt und derzeit von den Terroristen des Islamischen Staates (IS) am heftigsten angegriffen wird. Diese Aufnahmen sind keine zwei Tage alt. Menschen, denen man heute auf Youtube beim Sterben und Töten zusehen kann, haben vor wenigen Tagen noch gelebt. Dieser Krieg wird in weiten Teilen nahezu live vor den Augen der Weltöffentlichkeit geführt. Die Verbreitung von Handys mit Videokameras und Internetverbindungen ermöglicht diese Bilderflut. Nie zuvor war der ungeordnete Einblick in ein Kriegsgebiet einfacher: embedded vom Schreibtischstuhl aus.

An der Realität ändern die Bilder nichts

Dabei lassen die Bilder nicht nur aufgrund ihres Inhalts Rückschlüsse auf den Ort des Kampfes zu: je besser ihre durchschnittliche Bildqualität, umso reicher sind die Orte, an denen gekämpft wird. Die Menschen besitzen dann einfach bessere Kameras. Vermutlich wird irgendwann ein Google-Algorithmus Zusammenhänge herstellen und die Todesopfer eines Konfliktes anhand von Filmaufnahmen prognostizieren. Das Erstaunlichste an all diesen Entwicklungen ist aber, wie wenig sich die Realität durch sie ändert. Ja, die Weltöffentlichkeit kann nun zusehen, als wäre sie dabei.

Aber tut sie es auch? Und ändert sich etwas, wenn sie es tut?

Als der Fotograf Nick Út am 8. Juni 1972 sich für die Agentur AP in Vietnam einem kleinen Dorf näherte, rannten ihm Menschen entgegen, die nach einem Napalm-Angriff brannten. Das Bild der neunjährigen Phan Thi Kim Phúc, die sich im Rennen die brennenden Kleider vom Leib riss, wurde vom AP-Büroleiter in Saigon, dem Deutschen Horst Faas, gegen die Regeln von AP veröffentlicht. Nur so konnte es zu der großen Debatte in den USA beitragen, die zum Ende des Kriegs führte. Die Weltöffentlichkeit hatte hingesehen - ein Teil von ihr formierte sich, auch wegen dieses Bildes, und erhob sich. Das Foto wurde zum Symbol, jeder Mensch kennt es bis heute.

Krieg in Vietnam - Kinder flüchten nach Napalm Angriff

Das Bild vom Angriff auf Tràng Bàng mit der neunjährigen Phan Thiị Kim Phúc half, den Krieg zu beenden.

(Foto: Nick Ut/AP)

Die Bilder, die uns nun täglich und nahezu in Echtzeit über die Gräuel in Syrien und im Irak zur Verfügung stehen, werden keine Symbole. Davon ausgenommen sind jene Aufnahmen, die mit der Intention entstehen, ein unvergessliches Bild zu komponieren. Das gelingt derzeit den Mördern der amerikanischen Geiseln aus zwei Gründen: erstens, weil sie es darauf anlegen und sie die Aufnahmen - angefangen beim orangefarbenen Anzug der Gefangenen bis hin zur Weite der Wüste - sorgfältig inszenieren. Zweitens, weil die schiere Brutalität der Enthauptungen so furchtbar ist, dass sich das Bild ins Gedächtnis brennt, ob man nun möchte oder nicht.

Das Gute und das Böse lassen sich auf diesen Bildern kaum entwirren

Das bleibt ein Sieg der Propaganda. Andere Bilder aus diesem Krieg werden nicht in das kollektive Gedächtnis eingehen. Dafür gibt es Gründe. Zunächst einmal hat sich mit dem Netz die Mediennutzung jener Menschen verändert, die man früher Leser nannte und die heute Nutzer heißen. Wer sich für Bilder aus Krisengebieten interessiert, kann sich stundenlang die schrecklichsten Aufnahmen angucken. Selbst das Pressefoto des Jahres (zu dem 1972 die Aufnahme aus Vietnam gekürt wurde) sticht aus der Masse des Medienangebots heute kaum noch hervor.

Anders als in der Zeit von Vietnam sind die neuen Bilder des Krieges keine knappe Ressource. Millionen davon existieren, immer nur eine Webseite weit weg. Es mangelt an Ordnungsmechanismen, an einer Art Google-Suche für Videos aus Kriegs- und Krisengebieten, um die Einordnung des Geschehens zu erleichtern, um Zusammenhänge herzustellen und mit Technik zu helfen, Inhalte zu benennen und Beschreibungen zu verifizieren.

Denn die Wahrheit dieser Aufnahmen ist in aller Regel kompliziert. Da ist kein brennendes Mädchen zu sehen, das, eindeutig unschuldig von einem Bomberpiloten mit einer Brandwaffe attackiert wird. Die Grenze zwischen Gut und Böse lässt sich hier kaum ziehen.

Töten und getötet werden in Nahaufnahme, das sind außerdem Aufnahmen, die die Zeitungen nicht drucken und die Fernsehsender nicht zeigen. Sie sind ethisch problematisch, um es vorsichtig zu formulieren. Viele Menschen in einer Industrienation würden Aufnahmen von ihrem Leben und Sterben verweigern. Das Recht am eigenen Bild wird im Krieg genauso vergessen wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Aber die Würde der Sterbenden wird nicht nur beim Filmen verletzt, sondern auch auf Youtube.

Erkenntnisgewinn bescheren die Bilder nur für einen kurzen Moment, ihre inhaltliche Botschaft ist begrenzt: Krieg ist brutal, unmenschlich, jeder Tod birgt seine eigene Traurigkeit, auf das Töten folgt das Plündern. Leichen werden auf Pick-ups geladen, Vertrauen finden die Kämpfer in ihrem Schlachtruf. Ihre Masse macht sie austauschbar. All das sind Dinge, die man auch vorher schon wusste. Und so wird man nach dem ersten Schock beim stundenlangen Anschauen dieser Aufnahmen auch kaum trauriger - stattdessen fühlt man sich nur auf eine sehr seltsame Weise leer.

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