Süddeutsche Zeitung

Kreuzberger Alternativen:Wahnsinn und Utopie

Der Punk-Club SO 36 in Berlin-Kreuzberg hat ein Buch über seine eigene Geschichte veröffentlicht.

Von Jan Kedves

Womit bloß anfangen? Mal wieder mit dem Eröffnungsabend, August 1978, als David Bowie und Iggy Pop im Mercedes-Coupé vorfuhren, Bowie einen beigefarbenen Anzug trug und Pop später an der Bar umkippte? Oder mit dem Abend zwei Jahre später, als die U.K. Subs aus England spielten und die legendäre Rattenjenny da war, die sich als Stammgast und angesehene Kreuzberger Punk-Autorität an diesem legendären Ort so einiges rausnehmen konnte? So hielt sie es zum Beispiel für völlig einleuchtend, mit ihrer Ratte hinter die Bühne zu klettern, vor den Augen der Band in eine Wanne zu pinkeln und zu sagen: "Die Klos sind voll!" Die U.K. Subs fanden das so überzeugend, dass Rattenjenny seitdem bei ihren Konzerten freien Eintritt genießt.

Weniger gut zurecht kam Rattenjenny allerdings mit Martin Kippenberger, der 1979 noch kein weltberühmter Künstler war, sondern ein gerade aus Florenz nach Westberlin gezogener Anzug- und Krawattenträger. Kippenberger dachte sich wohl, er könne Rattenjenny vor die Tür setzen, die ging dann aber mit einem zerbrochenen Bierglas auf ihn los - woraufhin Kippenberger ins Krankenhaus kam und danach seine berühmte Selbstporträtserie malte, die ihn als blutig bandagierte Mumie zeigt: "Dialog mit der Jugend" (1979).

An Martin Kippenbergers 25. Geburtstag wurden auf der Bühne Palatschinken gebacken

Der Dialog mit der Jugend hält - inzwischen meist friedlich - bis heute an, davon zeugt das Buch "SO 36 - 1978 bis heute". Jeder halbwegs pop- und subkulturell Interessierte sollte es lesen. Denn manchmal ist es eben doch gut, sich selbst zu historisieren, bevor andere es tun, beziehungsweise nachdem andere es bereits - falsch - getan haben. Also hat der Trägerverein des deutschland- und weltweit bekannten Kreuzberger Punk- und New-Wave-Ladens, Sub Opus 36 e.V., nun diesen 463-Seiten-Klotz herausgegeben, voller Zeitzeugenberichte, Magazin-Scans und Fotos, die die (dezidiert links-)bewegte Historie des SO 36 aufrollen.

Kippenberger zum Beispiel: Er war nicht, wie häufig kolportiert wird, der Gründer des SO 36. Er stieg erst 1979 ein, ein Jahr nach der Eröffnung, mit Geld, das er geerbt hatte. Kaum sechs Monate lang war er einer von drei Geschäftsführern - bis das "Esso" dann zum ersten Mal Pleite machte. Was auch daran lag, dass die von Kippenberger organisierten Kunst- und Performance-Abende - etwa das Varieté zu seinem eigenen 25. Geburtstag, bei dem auf der Bühne live Palatschinken gebacken wurden - ein finanzielles Fiasko waren. Worüber Kippenberger dann auch sehr weinerlich werden konnte.

Subkultur-Geschichtsschreibung, das ist eine heikle Sache. Entweder stecken die Autoren zu wenig im Thema, was sich mit größter Recherchemühe nicht wettmachen lässt. Oder sie stecken zu tief drin und finden deswegen alles gleich wichtig. In "SO 36 - 1978 bis heute" aber stimmt die Balance aus Stadtteil-Politik, professionell-antikapitalistischem Duktus und Altkreuzberger Hausbesetzerromantik. Ausführlich, aber nicht verzettelt, chronologisch, dann aber in der Mischung von Anekdoten, Interviews, Essays und autobiografischen Notizen doch abwechslungsreich - insgesamt ist das Buch so gelungen, dass man sich fragt, wie ein basisdemokratisches Kollektiv so etwas hinbekommen konnte. Denn man weiß ja, wie es dort abgeht: Alles wird im Plenum ewig durchgekaut, allen muss alles recht gemacht werden. Gab es in der sechsköpfigen Redaktionsgruppe ewige Diskussionen darüber, was man rauslassen, was man unbedingt noch mit reinnehmen müsse? Sicher ist nur, dass es sich jetzt eben wunderbar liest, wenn zum Beispiel der Musikjournalist Ralf Niemczyk seine Erinnerungen an die sagenumrankte Musikszene in den frühen Achtzigern aufschreibt: "Man musste - im Guten wie im Schlechten - nichts können, um in großen Teilen West-Berlins der heiße Scheiß zu sein."

Dass das Buch eigentlich zwei Jahre zu spät erscheint, sollte es doch schon 2014, zum 36. Jubiläum des SO 36, fertig sein: Sei's drum. Jetzt, 2016, passt es vielleicht sogar noch besser in die Zeit. Jetzt nämlich ist sehr viel die Rede vom neuen, krass eskalierenden Kreuzberg, vom Kulturkampf rund ums Kottbusser Tor, von Gentrifizierung und sexistischen und homophoben Übergriffen osteuropäischer und arabischer Banden am helllichten Tag. Jetzt, 2016, scheint das alte, schon tausendmal totgesagte Kreuzberg-Südost, für das auch das SO 36 immer stand, also vielleicht doch endgültig unterzugehen - während allerdings im SO 36, in fünf Minuten Laufweite vom Kottbusser Tor, auch wenn inzwischen vielleicht die Security an der Tür etwas verstärkt wurde, ansonsten doch noch alles beim Alten ist.

"Es war nur ein Loch in der Erde. Kein Licht, keine Decke, der Boden ein Haufen Dreck."

Das heißt: Bei "Gayhane" feiert die queere türkisch-arabische Community einmal im Monat zu den "Homoriental Beats" von DJ Ipek, sonntags im "Café Fatal" schwofen die Lesben und Schwulen zu Zwanzigerjahre-Schlagern, beim "Kiezbingo" wird Geld für soziale Projekte gesammelt, Geflüchtete kommen umsonst rein. Und zwischendurch gibt es immer noch die Punk- und Hardcore-Konzerte, die anfangs die Legende des Ladens begründeten (Motto: "Moderne Musik für zerstörte Menschen"). Auch die Bands selbst erinnern sich gerne daran: Roger Miret von Agnostic Front, die seit 1990 immer wieder ins SO 36 kommen, schreibt in seinem kurzen Beitrag, das SO 36 sei "das CBGB's von Europa", und Blaine L. Reininger von Tuxedomoon schickt folgende Zeilen: "Wir waren es ja gewohnt, in Dreckslöchern und Absteigen zu spielen (. . . ), die einfach nur im Nachhinein oder mit Uppers glamourös erschienen. Wirklich erstaunlich war das Backstage im SO 36. Es war einfach nur ein Loch in der Erde. Kein Licht, keine Decke, der Boden war ein Haufen Dreck in einer Art Höhle. Ich fand's total lustig." Auch sehr schön: das Foto von 1980, auf dem Wolfgang Müller von Die Tödliche Doris als junger Fanboy bei einem Konzert der damals längst legendären britischen Industrial-Krach-Combo Throbbing Gristle in der ersten Reihe steht und ins Mikro brüllt, das Genesis P-Orridge ihm von der Bühne entgegenstreckt.

Ja, die SO-36-Geschichte ist wirklich eine Wahnsinnsgeschichte. Die Geschichte eines Raums, der für seine Kargheit und Neonbeleuchtung, sprich: für seinen Anti-Hippie-New-Wave-Chic, gehasst wurde. Ein Raum für "multiple Diasporen", der "es bis heute schafft, sich lokal zu verwurzeln, ohne dabei Provinz zu werden", wie Wolfgang Müller schreibt. Vorher war hier ein Penny-Markt, der 1967 in einem ehemaligen, im Krieg zerbombten Kino eröffnet hatte. Das Haus stand, als es 1861 gebaut wurde, noch gar nicht in Kreuzberg, sondern noch in der alten Luisenstadt.

Und die SO-36-Geschichte ist eben auch die Geschichte einer gelebten, antifaschistischen, antisexistischen, immer wieder für unmöglich oder utopisch erklärten, hier aber doch eigentlich ziemlich super funktionierenden, wenn auch kompliziert-konfliktreichen Multikultur. Im Buch wird sie besonders in den Fußnoten lebendig, etwa wenn Mitherausgeber Robin Jahncke in seinem Text, der die Veränderungen in Kreuzberg nach dem Fall der Mauer reflektiert, über das Publikum seit 1990 schreibt: "Während der Punk den Hippie hasst, den es gar nicht mehr gibt, fühlt sich der Schwule, der sich über Frauen das Maul zerreißt, vom homophoben Hardcore-Idioten angegriffen, der zwar Nazis verkloppt, aber dessen geistigen Horizont teilt, und der kleinkarierte Linke versteht eh nur Bahnhof, hat dazu aber am meisten zu sagen . . ."

Tja, zu dieser Ironie kommt wohl noch hinzu, dass das SO 36 mehrmals vom Ordnungsamt verplombt und zugemauert wurde und dann - nach fast drei Jahrzehnten ohne Staatsknete - nach der letzten Zwangsschließung 2009 nur mithilfe des Berliner Senats wieder eröffnen konnte: Der ermöglichte nämlich die Finanzierung der amtlich angeordneten Schallschutzmauer. Ja, auch in Kreuzberg sind die neuen Nachbarn im ex-besetzten Haus inzwischen sehr geräuschsensibel, und das SO 36 ist in den Programmrunden der öffentlichen Förderung angekommen. Die Senatsverwaltung attestiert ihm ganz offiziell, "einen Mehrwert an Lebensqualität in Kreuzberg" zu schaffen, und auch dieses Buch wurde co-finanziert, mit Mitteln des Musicboard Berlin. Soll einem alles recht sein, solange nicht noch einmal - wie 2015 - Nena auftritt. 2020 endet der Mietvertrag. Kaum auszumalen, was Kreuzberg ohne das "Esso" einmal sein soll.

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Quelle:
SZ vom 09.05.2016
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