"Kraft" von Jonas Lüscher:Gottesbeweis nach Google

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Jonas Lüschers fulminantes Romandebüt "Kraft" erzählt vom Clash zwischen Old Europe und New Economy.

Buchkritik von Christopher Schmidt

Disruptive Energie - seit dem Wahlsieg Donald Trumps ist es das Wort der Stunde. Auch Richard Kraft, Rhetorikprofessor und Titelheld von Jonas Lüschers erstem Roman, hat den Begriff nicht nur unzählige Male gehört und gelesen, sondern ihn vielmehr "theoretisch durchdrungen und ihm so, durch das nahtlose Einsetzen in sein Gedankengebäude, die scharfen Kanten gebrochen". Das glaubte er zumindest.

Jetzt aber, im Arbuckle Dining Pavilion der Stanford Business School, klingt es für ihn wie eine Drohung, wenn die zwei jungen Start-up-Unternehmer, mit denen Kraft ins Gespräch kommt, sagen, es liege "a lot of disruptive energy" in der Luft. Es geht um Selbstoptimierung durch ein Nahrungsmittelsubstitut namens Soylent, das den zeitraubenden Verzehr von "rotting ingredients" ersetzt. Und einer der beiden hat eine Streaming-App entwickelt.

Der Kopf des Protagonisten ist so leer, als habe die Putzfrau darin gestaubsaugt

Zu Demonstrationszwecken zoomt er sich in die intime Unterhaltung zweier halbwüchsiger Mädchen aus Krafts Heimatstadt Tübingen hinein. An der Wand hängt ein Poster der Rapperin Nicki Minaj, auf dem sie ihr gewaltiges Hinterteil präsentiert. Birnenspalier, murmelt Kraft vor sich hin und lässt das Wort "wie ein beruhigendes Mantra in seinem Geist zirkulieren". Schließlich ruft es Hölderlins Gedicht "Hälfte des Lebens" in ihm wach, das mit den Worten "Mit gelben Birnen hänget ..." anhebt, und befördert Kraft aus dem vulgären Kalifornien der Bots, Boobs und Bootys, der künstlichen Körper und der künstlichen Intelligenz, zurück ins dichterisch verträumte Tübingen. Mit dem Stocherkahn der Imagination setzt er hinüber ans rettende Neckar-Ufer altehrwürdiger Bildung, vertraute Gefilde.

Der Hoover Tower an der Stanford University ist bei Jonas Lüscher ein durchaus babylonisches Bauwerk. (Foto: David Madison/Getty Images)

Denn es hat Kraft vom Hölderlinturm in einen ganz anderen Turm verschlagen, den Hoover Tower, markanter Blickfang auf dem Campus der Stanford University und Sitz eines neoliberalen Thinktanks. Hier bereitet Kraft seinen Vortrag vor, unter dem versteinernden Medusenblick seines einstigen Idols, des "Falken" Donald Rumsfeld, berühmt-berüchtigt für sein Verdikt über das "alte Europa". Das Porträt des ehemaligen US-Verteidigungsministers wacht an der Wand gegenüber seinem Platz. Der Dotcom-Milliardär Tobias Erkner, für den reale Figuren wie Mark Zuckerberg, Elon Musk, Peter Thiel oder Jeff Bezos Modell gestanden haben, hat einen Wettbewerb ausgeschrieben. "Warum alles, was ist, gut ist, und warum wir es dennoch verbessern können", lautet in Anlehnung an Leibniz' Essay zur Theodizee die Preisfrage. Ein säkularer Gottesbeweis in Zeiten der kapitalistischen Universalreligion soll erbracht werden, die Antwort des Silicon Valley auf die Weltlage.

Krafts Studienfreund Ivan hat ihm eine Einladung zugespielt. Es winkt das geradezu obszöne Preisgeld von einer Million Dollar. Kraft braucht das Geld, um sich freizukaufen, denn seine kaputte Ehe mit Heike ist nur noch "ein Klein-Klein aus Begehrlichkeiten, Eitelkeiten, Wichtigkeiten und gegenseitigem Aufrechnen von Verzicht und Leistung".

Das Verlangte sollte eigentlich eine leichte Übung sein für einen mit allen akademischen Wassern gewaschenen Meisterdenker wie ihn, Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Walter Jens. "Für die Anschlussfähigkeit ein roter Faden vom späten Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer, dann zur Abgrenzung ein paar Randmaschen aus der dichten Unterwolle Huntingtons, aus dem Querfaden heraus ein paar rechte Maschen eines obskuren, vermutlich zu Recht in Vergessenheit geratenen chilenischen Ökonomen aus der Chicagoer Schule, den er in den frühen Achtzigern gelesen und dank seines phänomenalen Gedächtnisses auch nach dreißig Jahren noch zitieren kann, eine halbe Nadellänge Finkielkraut für die Empörung, eine halbe Nadellänge Hölderlin fürs Gemüt, für die Authentizität ein paar Schläge aus einem eigenen, kürzlich im Merkur publizierten Aufsatz, und zur ironischen Imprägnierung, aber auch als vorsorglich offen gehaltener Fluchtweg, lässt er gerne noch ein paar Maschen Karl Kraus fallen."

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Doch, so sehr Kraft sich auch müht, die Nadeln klappern zu lassen, es gelingt ihm nicht, den nötigen Fortschrittsoptimismus zu mobilisieren. In ihm herrscht ein Vakuum, als habe die mexikanische Putzfrau mit ihrem vacuum cleaner in seinem Kopf gestaubsaugt. Und die Hoover Institution, in der Kraft sich befindet, ist selbst so etwas wie ein Gedankenstaubsauger, eine Blase, ein Vakuum. Dieses Vakuum, das seit dem Zusammenbruch des Ostblocks auch ein politisches ist, bildet eine Hohlform, in die Kraft seine privaten Reminiszenzen und Reflexionen hineingießt.

Als Studenten in den Achtzigerjahren hatten Kraft und sein ungarischer Freund István Pánzél, genannt Ivan, sich in der dandyhaften Pose junger Salon-Reaktionäre gefallen. Sie jubelten Ronald Reagan bei dessen Berlin-Besuch zu, fuhren nach Bonn, um die Bundestagsreden von Kohl, Geißler und Otto Graf Lambsdorff zu hören, neben Margaret Thatcher war er ihr politisches Leitbild. Sie standen "Seite an Seite in ihrem gemeinsamen Kampf für Freiheit und gegen den starken Staat, für atomare Abschreckung, niedrige Steuern, Eigenverantwortung, Investitionsanreize und Privatisierungen, aber sie erlegten sich eine strenge Arbeitsteilung auf."

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István spezialisiert sich auf sicherheitspolitische Fragen und macht sich einen Namen als Nuklearstratege. Er wird als Vorzeige-Dissident herumgereicht, dabei war er 1981 bloß vergessen worden bei einem Turnier der ungarischen Universitäts-Schachmannschaft im Westen.

Im kalifornischen Restaurant werden Macaroni and Cheese in der Gourmet-Version serviert

Bei der Reagan-Demo am Nollendorfplatz dann hatte eine Friedensaktivistin Ivan mit dem Draht einer Gerbera fast das Auge ausgestochen. Als Kraft, der die Frauen in seinem Leben stets nur ins Bett bekommt, indem er sie so lange zuschwafelt, bis sie sich seiner erbarmen, ein Verhältnis mit ihr anfängt, kommt es zum Bruch zwischen den Freunden. Ivan macht Karriere als politisch einäugiger Zyklop, doch Kraft beginnt in der Tech-Community an seinen einstigen Idealen zu zweifeln. Hier, wo jene marktfromme Geisteshaltung, mit der er stets nur provokativ kokettierte, Normalität ist, bricht die Herkunft in ihm durch. Plötzlich lehnt sich alles in ihm auf: das alte Europa gegen die New Economy, Hermeneutik gegen Algorithmen, Humanismus gegen Engineering. Er fragt sich, eine Denkfigur von Isaiah Berlin aufgreifend, ob er ein Fuchs ist oder ein Igel, einer, der viele Dinge weiß oder nur eine einzige große Sache, ein starrer, aber effizienter Systemdenker oder ein flexibler Eklektiker und geschmeidiger Situationist. Und an welchem Punkt sich das eine womöglich in das andere verkehrt.

In einer Szene führt Tobias Erkner ihn in ein Gourmet-Restaurant, wo eine High-End-Version des Allerweltsessens Macaroni and Cheese serviert wird, gastronomisches Banausentum in der Millionärsvariante. Und in einer anderen halluziniert Kraft das Strafgericht eines Tsunamis herbei, der das Silicon Valley begräbt. In der Realität geht nur er selbst baden. Bei einem Ausflug kentert er mit dem Ruderboot.

Statt seiner Dissertation hat Lüscher diesen Roman geschrieben, gut so

Dieser Richard Kraft ist die Karikatur des europäischen Intellektuellen, sein Versagen spiegelt den geistigen Bankrott einer Elite wider, die dem drohenden digitalen Totalitarismus nicht das Geringste entgegenzusetzen hat. Jonas Lüschers Buch vereint Campus-Roman, Gelehrtensatire und beinharte Kapitalismus-Kritik in sich. Die Souveränität und Leichtfüßigkeit, mit der Lüscher philosophische Exkurse und ein fein gewobenes Motivnetz auf nur knapp 240 Seiten zu einer luziden Gegenwartsparabel verdichtet, ist staunenswert. Schon sein Erstling "Frühling der Barbaren" war 2014 ein echter Wurf. Die Novelle handelt von einer britischen Hochzeitsgesellschaft in einem tunesischen Luxus-Resort, die durch den Zusammenfall von Bankenkrise und arabischem Frühling buchstäblich in die Wüste geschickt wird. Aus dem Stand hatte der 1976 geborene, in München lebende Schweizer Lüscher eines der eindrücklichsten Bücher des Jahres vorgelegt.

Wie damals wählt Lüscher auch diesmal einen betont altmodisch-gediegenen, ironisch unterlegten Erzählton, der mal an W. G. Sebald, mal an Christian Kracht erinnert. Lüscher etabliert eine Chronistenstimme, für die Thomas Manns zwischen "frommer Verehrung" und "erschrockenem Zweifel" schwankender Serenus Zeitblom aus dem "Doktor Faustus" Pate gestanden hat. Auch Umberto Eco hat sich in "Der Name der Rose" diese Haltung angeeignet, "alles begreiflich zu machen durch einen, der nichts begreift". Um den Roman zu schreiben, hat Lüscher seine Dissertation sausen lassen und die Stipendien, die ihn unter anderem zu Hans Ulrich Gumbrecht nach Stanford führten, auf denkbar beste Weise zweckentfremdet.

Die kühle Intellektualität dieses Autors ist ein schöner Fremdkörper in einer Zeit, in der Reflexionsprosa nicht allzu hoch im Kurs steht. So berechtigt es auch sein mag, Literatur zu einer Hilfskraft der Einfühlung zu machen, um der Diversität der Lebenswelten gerecht zu werden, so wohltuend ist der Laserblick eines Jonas Lüscher, der unsere Gegenwart mit einem eisigen Sengstrahl analysiert.

Jonas Lüscher: Kraft. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2017. 237 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.

© SZ vom 04.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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