Berlinale:Der geschickte Bärenknuddler tritt ab

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  • Dieter Kosslick steht vor der letzten Berlinale unter seiner Leitung.
  • Seine 18-jährige Amtszeit ließ kein spezielles Filmkunst-Profil erkennen, eher setzte er auf Glamour und Durchwursteln.
  • Er schaffte es aber auch, die Berlinale zum größten Publikumsfestival weltweit zu machen.

Von Tobias Kniebe und David Steinitz

Misst man den Erfolg eines Filmfestivals in Blitzlichtgewittern, wird die Berlinale, die am Donnerstag startet, ihren Höhepunkt erst vier Tage später erreichen. Dann soll der Hollywoodstar Christian Bale über den roten Teppich laufen, um im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz seine Politfarce "Vice" vorzustellen. Darin spielt der Brite unter viel Make-up und Kunstfett den ehemaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney.

Die Rolle hat dem 45-Jährigen seine vierte Oscarnominierung eingebracht, wie überhaupt der ganze Film mit acht Nominierungen zu den großen Highlights der diesjährigen Filmpreissaison gehört. Ein Coup also, dass Berlinale-Direktor Dieter Kosslick dieses gefeierte Hollywoodwerk so kurz vor der Oscarverleihung nach Berlin geholt hat? Eine letzte Demonstration seiner Chefpower, bevor der 70-Jährige die Leitung der Berlinale nach stolzen achtzehn Jahren an die Niederländerin Mariette Rissenbeck und den Italiener Carlo Chatrian abgeben wird?

Schaut man etwas genauer hin, auch mit Blick auf eine Gesamtbilanz der Ära Kosslick, sieht die Sache etwas anders aus. "Vice" ist in der zunehmend globalisierten Welt des Kinos kein frischer Film. Bis auf Deutschland und ein paar Nachtrödlerländer wie Ungarn und Rumänien ist er schon überall gestartet, teilweise seit zwei Monaten. Alle Beteiligten befinden sich im Endspurt ihrer PR-Kampagnen für die Oscars, auf der Berlinale schließt das deutsche Publikum quasi nur noch einen Wissenslücke. Von der Aufregung, die große Hollywood-Premieren zuletzt vor allem beim Festival von Venedig begleitet hat, wo die Welt einen allerersten Blick auf künftige Oscarkandidaten wirft, kann Kosslick nur träumen.

Dieter Kosslick
:Berlinale-Direktor lädt AfD zu Film über Warschauer Ghetto ein

Er bezahle jedes Ticket. "Und wenn sie dann noch sagen, das ist ein Fliegenschiss, dann muss ich sagen, sollte vielleicht jemand anderes einschreiten als die Filmemacher."

Aber das liegt nicht nur an ihm. Das Vorrücken der Oscars im Jahreskalender hat den Berlinale-Termin zunehmend unattraktiver für Weltpremieren und globale Marketingkampagnen gemacht, daran kann auch ein Festivaldirektor wenig ändern. Und natürlich ist Hollywood nicht alles. Kosslick hat im diesjährigen Wettbewerb, in dem 17 Filme um den Goldenen Bären konkurrieren, wie überhaupt im gut 400 Filme umfassenden Gesamtprogramm, durchaus eindrucksvolle Namen versammelt. So zeigen zum Beispiel Fatih Akin, François Ozon, Agnès Varda und Agnieszka Holland ihre neuen Werke in Berlin. Was die anspruchsvolle Filmkunst betrifft, schienen er und sein Beraterteam dem Konsens der großen A-Festivals zu folgen: Namen wie Asghar Farhadi, Lav Diaz oder Kim Ki-duk tauchten mal hier auf, mal da, auch auf der Berlinale waren sie zum Teil mit großen Werken früh präsent.

Daraus ergab sich jedoch nie ein spezielles Berliner Filmkunstprofil, das man Kosslick zuschreiben konnte. Das lag vor allem an spektakulären Fehlentscheidungen, die das Bild immer wieder verwirrten. Offiziell etwa würde er wohl bis heute die Wahl verteidigen, mit der er etwa 2005 die Berlinale eröffnet hat: "Man To Man" von Régis Wargnier. Ein Werk, in dem weiße Ethnologen im Dschungel von Afrika Pygmäen jagen, gefangen nehmen und studieren. Die Zeit bezeichnete das damals noch freundlich als "postkoloniales Schmierenstück" voller "dumpfem Rassimus", anschließend verschwand der Film in absoluter Vergessenheit. Kosslick aber strickte darum herum, mit einem südafrikanischen Musical und zwei Filmen über den Ruanda-Völkermord, einen stolz proklamierten "Afrika-Schwerpunkt".

Jeder Star, der dann doch nicht kam, wirkte wie ein neuer Tiefschlag

Wie konnte das passieren, und warum lohnt es, im Rückblick daran zu erinnern? Weil es einen raren Einblick gibt in die Tücken, die das Amt eines Festivalchefs mit sich bringt. Ein halbes Jahr nach dem Desaster, in Cannes auf einer Strandparty, ließ Kosslick durchblicken, dass alle anderen Planungen nicht funktioniert hatten, dass "Man To Man" seine letzte Chance gewesen war, wenigstens Zweitliga-Stars wie Joseph Fiennes und Kristin Scott Thomas für seine Eröffnungsgala zu gewinnen. Da klang es dann doch frappierend, was so alles schiefgehen kann bei der Planung eines Festivals, wie Eitelkeiten und Studiostrategien kollidieren können, wie wenig ein Festivalchef oft Herr der Lage ist. "Am Ende stand ich da mit meinem Scheiß-Afrika-Schwerpunkt", lachte er damals bitter.

Ähnlich könnte es ihm mit der Planung für den Eröffnungsfilm in diesem Jahr ergangen sein. Das Festival startet mit der Tragikomödie "The Kindness of Strangers" der dänischen Regisseurin Lone Scherfig ("Italienisch für Anfänger"). Die 59-Jährige ist eine verdiente Berlinale-Veteranin, auch ihre Hauptdarstellerinnen Zoe Kazan und Andrea Riseborough sind etablierte und respektierte Schauspielerinnen. Aber ohne diesen Künstlern zu nahe treten zu wollen - ein Selbstläufer, für den die Fotografen eine kalte Berliner Februarnacht durchfrieren würden, um gleich am ersten Tag ganz vorn am Teppich zu stehen, ist dieser Eröffnungsfilm nicht.

Der ewige Balanceakt zwischen Star-Glamour und Filmkunst ist natürlich kein exklusives Berlinale- oder Kosslick-Problem. Alle großen Festivals müssen sich damit herumschlagen, auch seine Nachfolger werden es zu spüren bekommen. In Berlin wurde der Hunger nach Weltprominenz allerdings lange verschärft durch das historische "Frontstadt der Freiheit"-Gefühl und die Sorge, die Welt könne Berlin bereits vergessen haben. Jeder Star, den die Berlinale angekündigt hatte, der dann aber doch nicht kam, wirkte wie ein neuer Tiefschlag für das Selbstbewusstsein der Stadt. Erst der Ruhm als Party- und Coolness-Hauptstadt hat dieses Berlinproblem etwas entschärft.

Weil manche Entscheidungen dieser Gratwanderung heikel sind und beim Publikum auch böse nach hinten losgehen können, hilft ein Radar für künstlerische Integrität. Der versagt gelegentlich bei allen Festivals, bei Kosslick aber hatte man über die Jahre das Gefühl, dass er keinen eigenständigen Begriff davon hatte, die Dinge oft nur beim politischen oder thematischen Nennwert nahm. Hätte ihm auffallen müssen, dass sein Wettbewerbsfilm "Bordertown" von Gregory Nava 2007 zwar das verdienstvolle Thema der massenhaften Frauenmorde in Mexiko zum Thema hatte, in jeder anderen Hinsicht aber komplett unterirdisch war? Eigentlich schon. Aber der Drang, wenigstens Jennifer Lopez über den roten Teppich zu führen, war stärker.

Auf keinen Fall gesehen werden wollte er dagegen mit Mel Gibson im Jahr 2011 - und gab aus diesem Grund sogar die Chance auf, die Weltpremiere des sehnsüchtig erwarteten Comebacks von Terence Malick, "Tree of Life", zu zeigen. Manchmal bieten Studios ihre Filme nur im Paket an - der begehrte Malick war an die Bedingung geknüpft, auch Jodie Fosters Film "The Beaver" im Wettbewerb zu präsentieren. In dem aber spielte Mel Gibson mit, den Hollywood wegen betrunkener antisemitischer und frauenfeindlicher Ausfälle zuvor einige Jahre geächtet hatte - das war Kosslick zu heikel. Die Chefs von Cannes waren dann mutiger, zeigten beide Filme, Jodie Fosters Werk bekam glänzende Kritiken, und der in Berlin befürchtete Shitstorm blieb völlig aus. "Tree of Life" gewann dann sogar triumphal die Goldene Palme.

Unter 17 Filmen sieben von Frauen - verglichen mit anderen Festivals ein wahres Fest der Gleichberechtigung

So kann man Kosslicks Gesamtbilanz, was Mut, programmatische Klarheit und cinephile Geschmackssicherheit betrifft, bestenfalls durchwachsen nennen. Aber auch das ist nicht das ganze Bild. Festivaldirektoren sind neben allen anderen Aufgaben auch öffentliche Figuren, Werbeträger, Maskottchen. In dieser Rolle brachte es Kosslick mit ein paar Markenzeichen - Hut, roter Schal, keine Scheu vor knuddeliger Bärensymbolik - zu einer gewissen Meisterschaft, mit der er seine Nachfolger jetzt sicher spröde aussehen lässt.

Hinter der Hallodrifassade, die manchmal auch die Grenze zum Dummschwätzertum überschritt, verbarg sich wiederum ein sehr geschickter Kulturmanager mit ausgeprägten Machtinstinkten, dem die Lokalpolitiker aus der Hand fraßen, der Budget und Einfluss der Berlinale stark vergrößern konnte und für das zahlungswillige Publikum in der Stadt immer neue Reize schuf: Kulinarisches Kino unter Beteiligung von Spitzenköchen, große Premieren im Friedrichstadtpalast, Einbeziehung der Stadtteile mit dem "Berlinale Goes Kiez"-Programm.

Einzigartig ist die Berlinale nach achtzehn Jahren Kosslick als Publikumsfestival - mit etwa 490 000 Kinobesuchern gilt sie als das größte weltweit. In der künftigen Doppelspitze wird Mariette Rissenbeek die organisatorische Aufgabe zufallen, dieses Erbe zu bewahren und auszubauen, während Carlo Chatrian, bislang Chef des Festivals von Locarno, als künstlerischer Leiter das cinephile Profil schärfen soll.

Ein Thema, dass Dieter Kosslick bei seinem letzten Auftritt besonders am Herzen lag, ist die Gleichberechtigung. Dass im diesjährigen Wettbewerb von 17 Filmen sieben von Frauen inszeniert wurden, mag manchem Zuschauer mau vorkommen, ist aber ein wahres Fest der Gleichberechtigung, wenn man sich anschaut, wie männerdominiert die Wettbewerbe anderer Festivals sind. Dazu kommt in diesem Jahr die Retrospektive, die unter dem Titel "Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen" Filme von Regisseurinnen aus der DDR und der Bundesrepublik ab 1968 ins Zentrum rückt.

Kosslick will weder die Streamingdienste ganz ignorieren noch die Kinobetreiber gegen sich aufbringen

Und doch - dass die Zeit für einen Neuanfang gekommen ist, zeigt ganz aktuell noch einmal das Problem der Streamingdienste. In dieser drängendsten Frage, der sich alle Filmfestivals derzeit stellen müssen, zeigt sich Kosslick einmal mehr eher mutlos und zögerlich. Firmen wie Netflix und Amazon binden längst viele der Filmemacher, die auch die meisten Festivals gerne im Programm hätten, von Alfonso Cuarón bis Martin Scorsese. Das Problem: Diese Produktionen bekommen nur selten eine Kinoauswertung, sie wandern oft direkt in die Online-Bibliotheken - und unterwandern so eine der originären Aufgaben von Filmfestivals: die Förderung der Kinokultur.

Aus diesem Grund hat man sich in Cannes - nicht zuletzt nach massivem Druck der französischen Kinobetreiber - dazu entschlossen, keine Netflix-Filme mehr in den Wettbewerb einzuladen. In Venedig dagegen versucht man es mit der Totalumarmung - was unter anderem Cuaróns Oscaranwärter "Roma" dort einen glänzenden Premierenauftritt verschaffte. Das mag manchem Kinopuristen nicht in den Kram passen, sichert dem Festival aber einen enormen Wettbewerbs- und Glamourvorteil.

So oder so, Cannes wie Venedig haben öffentlichkeitswirksam über diese Frage debattiert, während man in Berlin das Gefühl hat, dass Kosslick in dieser Angelegenheit lieber auf Tauchstation geht. Es scheint, als wolle er weder die Streamingdienste ganz ignorieren, noch die Kinobetreiber gegen sich aufbringen, die auch in Deutschland eine mächtige Lobby bilden.

Dieser Spagat hat dazu geführt, dass er jetzt zwar einen Netflix-Film in den Wettbewerb eingeladen hat. Aber das hat bislang kaum jemand zur Kenntnis genommen, weil es sich beim spanischen Drama "Elisa y Marcela" vielleicht durchaus um einen schönen Film, bestimmt aber nicht um eine der weltweit heiß erwarteten Netflix-Produktionen des Jahres 2019 handelt. Zumindest wenn man bedenkt, dass die Branche seit Monaten spekuliert, welches Festival zum Beispiel Martin Scorseses Netflix-Mafiaepos "The Irishman" mit Robert De Niro und Al Pacino wird zeigen dürfen. Gerade in dieser Streaming-Frage werden sich die künftigen Berlinale-Macher also eindeutig positionieren müssen. Denn wenn man eines aus den letzten achtzehn Jahren lernen kann, dann dies - dass Dieter Kosslick die größten Niederlagen immer dann erlebt hat, wenn er keine klare Haltung finden konnte und es mit Durchwursteln probiert hat.

© SZ vom 07.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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