Korea-Roman:Heiße Herzen, Kalter Krieg

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"Die große Heimkehr" heißt der Roman, in dem Anna Kim vom geteilten Korea um 1960 erzählt, von Verrat und Selbstbetrug, Aufbruch und Desillusionierung, auf der Suche nach ihrer Familie.

Von Ulrich Baron

Angesichts der Blitzkarriere des Ausdrucks "postfaktisch" könnte man meinen, es hätte kein zwanzigstes Jahrhundert gegeben. Keine Lügen in Zeiten des Krieges, keine Umerziehungslager und Propagandaministerien, keine Rituale von "Kritik und Selbstkritik", keinen George Orwell und keinen Arthur Koestler. Da erteilt Anna Kims Roman "Die große Heimkehr" eine doppelte Geschichtslektion. Ihr gelingt eine erzählerisch spannend und anschaulich vermittelte Einführung in die propagandistisch umkämpfte Geschichte Koreas. Die dort im Jahr 1977 geborene Autorin ist 1979 mit ihrer Familie zunächst nach Deutschland und dann nach Österreich ausgewandert.

Nach der 1875 von Japan erzwungenen Öffnung des koreanischen Kaiserreichs, folgte dessen Ausverkauf. Unter japanischer Ägide wurden das Land und seine Ressourcen der Weltwirtschaft zum Fraße vorgeworfen. Korea wurde zur japanischen Kolonie Chōsen; viele seiner Einwohner suchten ihr Glück in Japan oder in der chinesischen Mandschurei. Andere wurden von der rasant wachsenden Industrie Japans und später von dessen Armee und Militärbordellen zwangsrekrutiert. Als das japanische Imperium zerschlagen wurde, war Korea ein desintegriertes, entlang des 38. Breitengrades zwischen den Besatzungsmächten UdSSR und USA geteiltes Land, das 1950 im Koreakrieg zum ersten Hotspot des Kalten Kriegs avancierte.

Auf der Suche nach ihrer Familie ist die von Deutschen adoptierte Erzählerin nach Seoul gereist

In den Jahren 1959/60, um die der Roman kreist, hatte im Norden Kim Il-sung eine kommunistische Erbmonarchie etabliert, während im Süden der von den USA protegierte Präsident Rhee seine schwindende Macht durch Wahlfälschungen und den Terror seiner paramilitärischen "Nord-West-Jugend" zu bewahren suchte.

Anna Kim beschreibt die von Korruption und willkürlicher Gewalt, Misstrauen, Denunziation und erpresster Loyalität geprägte Atmosphäre im südkoreanischen Seoul jener Jahre, in denen das Regime in Pjöngjang bevorzugt wohlhabende Exilkoreaner aus Japan zur "großen Heimkehr" in das vermeintliche Arbeiterparadies im Norden zu verführen suchte. Um aber das historiografisch Gesicherte im Individuellen wie Allgemeinen fassbar zu machen, beglaubigt sie es literarisch durch eine Fiktion, in der es um Freundschaft und Liebe, Verrat und Selbstbetrug geht - und damit auch um die Glaubwürdigkeit (auto-)biografischen Erzählens.

Frauen auf dem Fischmarkt von Pusan in Südkorea. In Anna Kims Roman ist der gesamte Alltag von politischen Spannungen durchzogen. (Foto: imago/ZUMA Press)

Auf der Suche nach ihrer Familie ist die von Deutschen adoptierte Erzählerin nach Seoul gereist und hat dort ihren Gewährsmann kennengelernt, der ihr von einem Leben berichtet, das in den Vorkriegsjahren im dörflichen Nonsan begann. Aus den Schrecken von Krieg und Bürgerkrieg hatte dieser Yunho Kang kaum mehr als sich selbst und die Erinnerungen an seinen Kindheitsfreund Mino alias Johnny gerettet. Als er ihn nach jahrelanger Trennung in Seoul wiedertrifft, wird er Teil einer Dreiecksbeziehung, die ihn und Johnny mit Eve Moon verbindet, die als Taxigirl in einer "Tanzschule" arbeitet. Zunächst ahnungslos, sieht er sich bald in ein Spiel aus Lügen und falschen Identitäten verstrickt, um erst spät zu erfahren, dass Teile davon weit in seine Kindheit zurückreichen.

Was macht einen Menschen zum Verräter an denen, die ihm am nächsten stehen? Angst, lautet eine mögliche Antwort. "Weißt du, Yunho", sagt die pragmatische Eve einmal, "du musst bedenken, wir werden von den Regierenden übernommen, wir können sie uns nicht aussuchen. Und unser Überleben hängt davon ab, wie überzeugend unsere Loyalität ist." Yunho hat immer mehr Gründe, an Eve und an Johnny zu zweifeln. Und was ist dran an den Gerüchten, sein älterer Bruder Yunsu habe ihre Mutter getötet, um seine Loyalität gegenüber den Kommunisten zu beweisen? Inmitten der auf Quellen ruhenden Romanhandlung, stellt die Hauptfigur diese Grundlage infrage. Damals habe er begonnen, nach der Wahrheit zu suchen, habe Artikel gesammelt, Protokolle, Berichte, sagt Yunho und wendet sich dann direkt an seine Zuhörerin: "Sie müssen verstehen, ich bin mit der Illusion aufgewachsen, es gebe sie und es gebe bloß eine."

Noch hinter der bitteren Ironie, die sich in der titelgebenden Propagandaphrase "große Heimkehr" verbirgt, lauert die Sehnsucht nach solch eindeutiger Wahrheit. Doch gerade hier liegt auch die Wurzel totaler Unterwerfung. "Ein Herz vereint" sei dass Motto der Volksrepublik Korea, sagt die fanatische Lehrerin Ayumi, die ihre Klasse zur Ausreise in den Norden animiert hat. Hatte sie zuvor gerade die Zerschlagung der Familienclans als Errungenschaft des Kim-Regimes gepriesen, liefert sie nun ein Glanzstück des Zwiedenkens, indem sie dessen Staat als "natürliche Erweiterung" der Kleinfamilie anpreist: "General Kim hat uns seine Familie geschenkt und uns unsere Würde wiedergegeben."

Anna Kim: Die große Heimkehr. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 559 Seiten, 24 Euro. E-Book 20,99 Euro. (Foto: Verlag)

Mit solchem Lobpreis steht Anna Kims Roman in der Tradition von Orwells "1984", dessen Medienkritik sie noch erweitert. Die Tonspur zu ihrem Buch liefert Billie Holiday, die in zahlreichen Szenen auf alten Grammofonplatten von den Illusionen der Liebe singt - und von den "foolish things", die einen daran erinnern. Ein Erweckungserlebnis ihrer Kindheit war für Yunho und Johnny eine erste Filmvorführung, und Eve hat sich selbst nach den Vorgaben eines amerikanischen Schönheitsideals designed. Selbst die nordkoreanische Propaganda in Japan bedient sich illustrierter Zeitschriften, deren Bilder Yunho freilich gestellt vorkommen, bis er auf einem Foto seinen verschollenen Bruder zu erkennen meint. Nunmehr durchsucht er jede Ausgabe, die er in seine Hände bekommt, auf der manischen Suche nach einer Wahrheit, die auf diesen Blättern gar nicht vorkommen dürfte.

Eigentlich sind die Hauptfiguren harmlose junge Leute, die weder Verräter noch Mörder sein wollen

Anna Kim beschreibt, was man auch in vielen lateinamerikanischen Romanen erleben kann. Die verführerische Macht, die der Glamour von Hollywood noch ins entlegenste Dorf und den ödesten Haushalt brachte, stellte die bestehenden Verhältnisse infrage, bot aber eine nur phantasmagorische Alternative.

Eigentlich waren Yunho, Johnny und Eve drei harmlose junge Leute, die weder Verräter noch Mörder werden und weder in einer kommunistischen Diktatur, wie Johnny, noch wie Yunho in der Illegalität verschwinden wollten. Doch anders als die Pragmatikerin Eve, die schließlich einen Amerikaner heiratet, sind Yunho und Johnny Idealisten, die der tristen Wirklichkeit zu entkommen suchen: "Johnny, der stets auf der Suche nach Möglichkeiten war, die ihn aus dem Nichts ins Alles befördern würden, und ich, der so sehr daran glauben wollte, dass in Nonsan die Zeit stehen geblieben war", so hat Yunho seinen Freund und sich selbst am Romanbeginn charakterisiert. Dem unerträglichen Faktischen versuchen beide zu entkommen, doch wo der eine voran- und der andere zurückwill, kommt es bestenfalls zur Trennung.

Und schlimmstenfalls zur Kollision, wenn die Umstände es wollen, dass man einander gerade im Wege steht, während beide glauben, endlich auf dem richtigen Weg zu sein. "Heimat: was für eine heikle, furchtbare und furchterregende Religion", heißt es einmal.

Am Ende hat Johnny in Nordkorea vielleicht seine Zukunft gefunden und Yunho seine Vergangenheit. Er lebt im Süden an einem Ort voller Bücher, Fotografien und Klänge, als ein alter Mann, der "These Foolish Things" in- und auswendig kennt, umgeben von Dingen, die ihn an das erinnern, was nicht mehr ist.

© SZ vom 30.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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