Die Empörung ist grenzenlos. Nachdem SPD und CSU den Bau eines neuen Konzertsaals für München ins Reich der Utopien verbannt haben, herrscht unter vielen, auch und vor allem Kulturschaffenden, Einigkeit: Die Stadt hat nicht nur die Belange der Musik verraten, sondern auch eine Chance zu städtebaulicher Innovation vertan. Ein Provinznest eben. Verschärft wird die Kritik oft durch den Hinweis, dass nicht nur Paris, sondern auch manche finanziell bedrängte mittelgroße deutsche Stadt in letzter Zeit einen neuen Konzertsaal gebaut hat.
Nun möchte sich die Musikweltstadt München nicht mit Essen, Bochum oder Dortmund vergleichen. Aber den Seitenblick auf Paris müssen sich die Münchner schon gefallen lassen. Auch, weil er verstehen hilft, weshalb es jetzt in München keinen Saalneubau geben wird.
Debakel um neuen Konzertsaal:Gute Nacht, München!
Nach zehn Jahren Debatte um einen neuen Münchner Konzertsaal macht das Ergebnis fassungslos. Wären öffentliche Bauherren schon immer so mutlos gewesen, die Stadt wäre für alle Zeiten ein Dorf geblieben.
Paris hat nicht zuletzt deshalb eine neue Philharmonie bekommen, weil sich der Komponist und Dirigent Pierre Boulez dafür starkgemacht hat. Boulez ist in Frankreich eine intellektuelle und moralische Institution. Er hat dem Staat viel abgetrotzt, das Musikforschungszentrum Ircam, das Ensemble Intercontemporain samt eigenem Konzertsaal, der Philharmonie 2. Es braucht immer solch listige, charismatische und besessene Persönlichkeiten, um Neues zu etablieren. Auch in München.
Karl Amadeus Hartmann hat die Neue-Musik-Reihe "musica viva", Hans Werner Henze die Musiktheaterbiennale gegründet, August Everding das Prinzregententheater wieder bespielbar gemacht. Der neue Münchner Konzertsaal aber hatte über die Jahre dauerhaft letztlich nur einen prominenten Befürworter, den BR-Chefdirigenten Mariss Jansons. Ansonsten engagierten sich dafür lange Zeit nur Lokalgrößen. Das hat einfach nicht genügt.
Jeder der auch nur einmal in der Salle Pleyel oder im Théâtre des Champs-Élysées ein Konzert gehört hat, in den hart klingenden Pariser Konzertsälen mit ihrem kurzen Nachhall, war von der Notwendigkeit eines Saalneubaus in Paris sofort überzeugt. Ähnlich geht es Besuchern der Nürnberger Meistersingerhalle oder des Bonner Festspielhauses. Die Akustik solcher Säle ist weit schlechter als die des Herkulessaals, früher des Kongresssaals oder jetzt der Gasteigphilharmonie in München. Gerade letztere wurde oft absichtlich schlechtgeredet.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es wäre noch immer wünschenswert und wundervoll, wenn München einen guten Saal bekäme. Nur: Die Notwendigkeit für einen solchen Saalneubau ist eben nicht so zwingend wie in Paris, Nürnberg, Bonn oder in Städten, die überhaupt keinen Konzertsaal haben.
Zudem ist das Akustikargument nicht zwingend. Warum hat es keines der großen Pariser Orchester in die Weltspitze geschafft? Weil die Akustik der Säle so schlecht ist? Dann dürften auch die drei großen Münchner Orchester keine erstklassigen Truppen sein, da sie alle in mittelmäßigen Sälen spielen müssen. Das Nationaltheater ist klanglich sogar noch schwieriger als der Gasteig. Jeder Musikfreund hört sich ein Konzert lieber in Luzern oder im Amsterdamer Concertgebouw an als im Gasteig. Auch Musiker spielen lieber dort als in München. Aber eine direkte Verbindung zwischen Akustik und Orchesterqualität? Gibt es nicht.
Gasteig-Sanierung:Details? Fehlanzeige!
Die Entscheidung von Bayerns Ministerpräsident Seehofer und Münchens Oberbürgermeister Reiter zur Gasteig-Sanierung hat viel Kritik hervorgerufen. Darüber hinaus hinterlässt sie noch etwas: zahlreiche ungeklärte Fragen.
Hinzu kommt, dass Konzertsäle städtebaulich ein Problem sind, da sie nur bei Konzerten besucht werden, ansonsten verödet herumstehen. Dieses Problem umgeht Paris, indem es seine beiden Philharmonien in ein Kunstareal integriert hat, wo dank des Konservatoriums auch tagsüber Menschen zu sehen sind.
Vor allem aber: Der Philharmoniebetrieb wird von einem künstlerisch agierenden Intendanten geleitet, und nicht wie in München von einer Geschäftsführerin, die in erster Linie garantieren soll, dass der geleaste Gasteig Geld einbringt. Intendanten gibt es in den meisten Städten, in Hamburg, Köln, an Frankfurts Alter Oper, dem Châtelet in Paris, am Wiener Konzerthaus. Ein solcher Intendant muss aufs Geld schauen und sich mit den ortsansässigen Ensembles und Veranstaltern arrangieren. Er kann aber auch ein eigenes Programm machen, ungewöhnliche Projekte und junge Musiker holen, die sonst keine Chance hätten. Ergänzt werden solche Aktivitäten durch Festivals wie die Wiener Festwochen oder das Festival d'automne in Paris. Das Zusammenspiel von Intendant und Festival beschert den Städten ein vielseitigeres und interessanteres Angebot, als München es kennt, wo Klassikmainstream und der kalte Musikmarkt dominieren.
Der Pariser Intendant Laurent Bayle hat zudem den Vorteil, neben dem Orchestre de Paris auch noch das Ensemble Intercontemporain und William Christies Les Arts Florissants im Haus zu haben, zwei der weltweit besten Truppen für neue und Barockmusik, die ihren Weltruf trotz schlechter Konzertsäle begründeten. München hat nie solche Ensembles hervorgebracht. Die Gründe sind unklar, aber ein Ruhmesblatt für die Kulturpolitik ist das nicht. Das kleine Freiburg ist da glücklicher, kann es doch mit dem Freiburger Barockorchester und Ensemble Recherche auf Weltniveau konkurrieren.
Während in den letzten Jahren Münchens Glück einzig an einem neuen Konzertsaal zu hängen schien, machte sich niemand Gedanken, ob dessen Fehlen das einzige Defizit einer Klassikmonokultur ist, die sich gern an anderswo reüssierte Musiker hängt. Die kleinkarierte Absage der Politik an den neuen Saal richtet den Blick jetzt auf diese Versäumnisse.
Streit um Konzertsaal:Wer was will
Horst Seehofer gibt den empfindlichen Pianisten, Ludwig Spaenle den Kontrabassisten und ein Intendant spielt Bratsche: Wer will eigentlich was im Konzertsaal-Streit? Wahre Motive und echte Künstler in einer verfahrenen Debatte.
Jetzt also will München Herkulessaal und Gasteigphilharmonie renovieren. Und es besteht zumindest die Chance, dass dies womöglich mit einem akustischen und ästhetischen Zugewinn einhergehen könnte. Auch könnte der Schulterschluss von SPD und CSU irgendwann sogar zu einem gemeinsamen Konzerthausintendanten führen. Sollte CSU-Chef Horst Seehofer dann vielleicht einmal nicht mehr die Geschicke der Bayern lenken, wird sicherlich ein charismatischer und ausdauernder Musikfreund das Projekt wieder angehen. Die Idee eines neuen Konzertsaals ist noch lang nicht aus Welt.