Konzertkritik: Stevie Wonder:Brennende Energie

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Stevie Wonder spielte in London, um seine erste Europatournee seit über zwanzig Jahren anzukündigen. Dabei verbreitete er so viel brennende Energie, dass man meinte, die Handys lüden sich von selbst auf.

Alexander Gorkow

In einem Separee des Londoner Hard Rock Cafés die Hände des blinden Stevie Wonder zu schütteln, von seinen außerirdisch langen Fingern gesucht, gepackt und nicht mehr losgelassen zu werden, ist eine in vielfacher Hinsicht berührende Erfahrung.

Zu Beginn, vor diesem Gespräch am Donnerstagnachmittag spielt er zunächst ein wenig auf seinem Yamaha Motif XS8-Keyboard herum, es purzeln Töne aus den Tasten, denen er hinterherlauscht, indem er den Kopf so neigt, als wolle er diesen Tönen nachreisen.

Ein paar Minuten geht das so - und man wurde als Auserwählter vorher von seinen Agenten ausdrücklich angehalten, den Musiker erst zu begrüßen, wenn der das kleine musikalische Intro beendet hat, und ihn danach keinesfalls während der Beantwortung einer Frage zu unterbrechen, da jene Unterbrechungen bei ihm ankommen wie Gewehrschüsse.

Glockenhelle Stimme

Also sitzt man erstmals einem Gesprächspartner nicht an einem Tisch, sondern an einem Keyboard gegenüber. Stevie Wonder rührt mit höchster Konzentration Töne und Akkorde zusammen. Dann reicht er plötzlich die Hände, die vielen Zöpfe fallen über die Schulter nach vorne, und er sagt mit dieser immer noch glockenhellen wie zugleich mit Sand belegten Stimme: "Hi, I am Stevie."

Es ist zugleich traurig wie auch komisch, dass der kurz nach seiner Geburt durch einen defekten Sauerstoffinkubator erblindete Mann den Leuten immer schon die Scheu vor seiner Behinderung nehmen wollte, indem er selbst Witze drüber machte.

Da hat er sich ein sicheres Repertoire an Gags angeeignet, die er ebenso zuverlässig abfeuert wie die Synkopen am Clavinet. So hat er es schon als Kind gemacht, wenn er alleine im Baumhaus zurückgelassen wurde und von oben einen Blindenwitz nach dem anderen herunterkrähte.

Martin-Luther-King-hafter Sog

Und heute, rund 50 Jahre später? Zwar erzählt Wonder in London viel von der Liebe, von seinem Freund Barack Obama, den er mit Verve durch die Vorwahlen sang, er erzählt von einem besseren Amerika, von einem Sonnenaufgang in einem Land der Finsternis, und da man ihn nicht unterbrechen darf, entfaltet das tatsächlich diesen Martin-Luther-King-haften Sog einer hypnotisierenden Predigt, man will eigentlich nach jedem Satz die Hände über den Kopf werfen und Halleluja rufen.

Aber ganz unmittelbar ein brillanter Musiker, dem Timing, der Melodie, den Pointen und dem Augenblick verpflichtet ist Wonder in kleinen albernen Dialogen wie diesem hier im Separee:

"Sie kommen aus Deutschland? Mann, mir gefällt Ihr Anzug. Was halten Sie von einer Spritztour durch London?" - Pause - "mit mir hinterm Steuer?"

"Sie waren lange nicht mehr in Deutschland, Stevie."

"Ich weiß! Waren Sie das letzte Mal da, als ich bei euch gespielt habe?"

"Ihr Konzert war exakt am 9. September 1984 in Düsseldorf."

"Wow. Und Sie waren da? Ich hab Sie gar nicht gesehen."

"Ihr Konzert dauerte vier Stunden."

"Haben die Leute sehr gelitten?"

"Es war phantastisch."

"Wirklich? Oder wollen Sie mir schmeicheln?"

"Es war grandios."

"Danke! Soll ich Sie jetzt heimfahren oder nicht?"

Lesen Sie auf der zweiten Seite, was Stevie Wonder bei seinen Auftritten so einmalig macht.

Stevie Wonder geht es immer und überall darum, gute Vibrationen auf die Menschen hinabregnen zu lassen. Dass er dabei nie bemüht, sondern stets irgendwie auserwählt wirkt, macht die Sache so sonderbar.

1962, stand er auf einmal wie vom Himmel gefallen vor der Soulfirma Motown in Detroit, die eine andere Zukunft versprach als die eines Hilfsarbeiters bei Ford.

Die Legende sagt, Motownchef Berry Gordy habe gerade schlecht gelaunt ein Steak verspeist, als ihm jemand ins Ohr flüsterte, dass vor der Tür ein unfassbar fröhlicher und blinder 12-Jähriger stehe, der vorsingen wolle. Berry stöhnte: "Auch das noch."

Letzte wichtige Platte entstand 1980

Was man über derlei Geschichten und über die Triumphe Stevie Wonders - Sinatra krönte ihn einst zum letzten großen Genie des Pop - heute, im Sommer 2008, glatt vergessen könnte: Er hat zwar in den letzten zwanzig Jahren die eine oder andere schöne Platte gemacht, aber die letzte wirklich wichtige - sie hieß "Hotter Than July"- stammt von 1980! Unter normalen Umständen müsste die Karriere lange schon beendet sein, aber normale Umstände gibt es hier nicht.

Vor allem mit dem pulsierenden, schwärmerischen und farbenfetten Liederzyklus "Songs In The Key Of Life", der im Oktober 1976 herauskam, definierte Stevland "Wonder" Morris die schwarze Musik der Gegenwart so verbindlich, dass man von einem schwarzen Opus Magnum sprechen kann, wie es in der populären Musik des 20. Jahrhunderts vor allem seit Duke Ellington kein zweites gibt.

Unter der sendungsbewussten Ägide des erst 26-Jährigen versammelten sich damals so eigentlich divergierende Einzelseelen aus Jazz, Rock und Funk wie Herbie Hancock, Jeff Beck, George Benson sowie der grandiose Bassist Nathan Watts in New York.

Eine Bibel, aus der oft zitiert wird

"Die Lieder in der Tonart des Lebens" sind eine Bibel, und da aus Bibeln oft zitiert wird, findet sich auf dem Werk vermutlich kein einziger Ton, kein Basslauf, keine Rhythmusspur, keine Melodie, nichts, was seither noch nicht von schwarzen wie weißen Propheten des Herrn entweder gesampelt oder gleich nachgespielt worden wäre.

Die Platte ist eine wunderbare Katastrophe: So etwas schaffen Normalsterbliche nicht ein einziges Mal - und Nichtnormalsterbliche (wie Wonder) immerhin kein zweites Mal.

Das Sonderbare und eben Nichtnormalsterbliche? Dass es heute natürlich egal ist, ob Stevie Wonder neue Lieder herausbringt. Im Moment arbeitet er mal wieder an einer neuen CD, aber nach London ist er gekommen, um in ein paar Einzelgesprächen sowie einer Pressekonferenz und einem Kurzkonzert zu erscheinen.

Kanonenschlag und Euphorie

Und man muss das schon derartig wörtlich verstehen ab jener Stunde, in der er mit unter anderem seinem alten Rühr- und Schmeichelbassisten Nathan Watts Songs spielt wie den Kanonenschlag "Superstition", den lustig eiernden "Master Blaster" oder "Signed, Sealed, Delivered", das so euphorisch klingt, als ob eine Horde feixender Allstars mit dem Bollerwagen in den Abgrund donnert.

Etwas über eine halbe Stunde dauert das Set, und in dieser halben Stunde liegt so viel brennende Energie in dem prallvollen Café, dass man meint, hier müssten sich eigentlich gerade sogar die Handys von selbst aufladen.

Es ist diese Energie der Gegenwart, die Stevie Wonders Auftritte zu Ereignissen machen, und vermutlich sind die "Songs In The Key Of Life" so gut, da sie jeden Funken Gegenwart aus der New Yorker Hit Factory in die Konserve pressten wie den berühmten Jack into the box.

Jedes Pathos verweigert

Was soll man da noch reden? Der Mann ist so spirituell, dass er alleine mit seinem Gesang aus einem Stück Holz einen jauchzenden Baptisten formen könnte.

Aber er verweigert jedes Pathos im Gespräch. Klar freut er sich mit seinem Freund Barack. Aber was das für die Community der Afroamerikaner in Amerika bedeuten wird? "Ich habe keine Ahnung. Ich weiß ja nicht mal, wie Afroamerikaner aussehen." Nach solchen Dingern hält er einem tatsächlich das Ohr hin, um zu horchen, ob man mitlacht.

Am Ende des Tages aber erzählt Stevie Wonder dann noch ein kleine Geschichte. Am 1. Juni 2006 hatte er ein großes Konzert auf Hawaii. Einen Tag zuvor unterrichtete man ihn vom Tod seiner Mutter. "Ich weinte und weinte und weinte." Er wollte das Konzert absagen. Doch in der Nacht zum 1. Juni erschien ihm seine Ma sehr, sehr deutlich im Traum: "Nichts wird uns jemals trennen, mein Baby. Wein jetzt nicht mehr. Und gib dein Konzert! Wenn du spielst, sind unsere Seelen vereint."

Pause. Er spielt ein paar Töne auf seinem Keyboard. "Verstehen Sie? Diese Konzerte sind wichtig. Das ist Soul. Dass wir unsere Seelen vereinen mit den Seelen derer, die wir lieben. Falls das dick aufgetragen klingt: Das ist es nicht, das ist Soul, es ist ganz einfach, okay? Ganz einfach!" Drum hat er sein Konzert auf Hawaii gegeben, einen Tag später. Und weil er das weiß mit den Seelen, drum ist er berührend. Wer braucht da eine neue Platte? Hallelujah.

Stevie Wonder spielt am 22.September in Köln, am 23.September in Mannheim und am 25.September in München.

© SZ vom 07./08.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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