Konzertkritik:Es ist Liebe

Konzertkritik: Céline Dion, hier bei einem Auftritt in Nizza.

Céline Dion, hier bei einem Auftritt in Nizza.

(Foto: AFP)

Céline Dion galt lange als nicht ernst zu nehmende Kitschnudel. Aber diese Zeiten sind vorbei. Ihre Musik ist genau das, was die Welt gerade braucht. Ein Konzertbesuch.

Von Kathleen Hildebrand, Berlin

"Empathy is cool" steht auf einem Aufkleber, den jemand an einen Fahrradständer geklebt hat, auf der Kreuzberger Seite der Spree, vor einem sehr coolen Lokal. Das liegt auf dem Weg zur Mercedes-Benz-Arena in Friedrichshain, einem eher nicht so coolen, aber sehr großen und an diesem Sonntagabend sehr vollen Konzertsaal. Céline Dion wird dort wenig später in Glanzhose und Glitzerblazer auf der Bühne singen, ein Bein angewinkelt wie Elvis, mit dem Becken kreisend wie er. Nur mit dieser charmanten, immer irgendwie unbeholfen wirkenden Dion'schen Steifheit. 12 000 Zuschauer werden begeistert johlen und applaudieren.

Man möchte gern glauben, dass Empathie jetzt wieder cool ist. Das klingt nämlich nicht nur schön und optimistisch. Es könnte auch erklären, was gerade mit Céline Dion passiert, dieser freundlichen Diva, die Geschmacksmenschen bis vor Kurzem noch als nervigste Kitschnudel von allen galt. Ihre Stimme sei wie "Möbelpolitur", schrieb ein amerikanischer Kritiker mal. Eine Kritikerin schrieb, sie sei wohl die abstoßendste Frau, die je Lieder über Liebe gesungen habe. Céline Dion verkörpert für viele, die sich als informiert empfinden, die unerträglichste Popmusik überhaupt: sentimentale Massenware.

Doch das hat sich geändert. Céline Dion ist cool geworden. Ende Mai sang sie bei den amerikanischen Billboard-Awards "My Heart Will Go On", das Lied hat dieses Jahr sein 20-jähriges Jubiläum. Der Kritiker des Atlantic lobte ihren Auftritt als den besten des Abends - ein Novum. Aber das Interessanteste geschah hinter der Bühne. Der Rapper Drake besuchte sie da in ihrer Umkleide, also einer der zur Zeit erfolgreichsten und einflussreichsten Popstars überhaupt. Drake verbeugte sich vor Céline Dion und sagte, dass er sich ihr Gesicht tätowieren lassen wolle.

Ihr Comeback funktioniert. Und es funktioniert auf so vielen Ebenen wie noch nie zuvor in ihrer 35-jährigen Karriere. Da ist zum Beispiel die Mode: Die Vogue hat Dion in Haute Couture fotografiert und nackt auf einem Stuhl in ihrer Suite im Pariser Ritz. Auf der Bühne in Berlin schlingt sie ihren Körper singend in einem hautengen Spitzen-Bodysuit erst um einen Stuhl und dann um einen schönen Tänzer. Danach ruft sie laut "Puuh, was war das denn?", schnauft und tut kurz, als sei sie eine Oma, die doch eigentlich am Stock gehen muss. Céline Dion scheint lockerer geworden zu sein, ein bisschen wilder, einen Tick ironischer. Es gibt Fotos von ihr in einem Pullover des angesagten Labels Vetements - darauf gedruckt das Filmposter von "Titanic".

Der Blick auf Céline Dion ist ein anderer geworden und das hat mehrere Gründe. Einer davon ist ihre persönliche Leidensgeschichte - ihr Mann René Angelil ist vor anderthalb Jahren an Krebs gestorben, zwei Tage darauf starb auch einer ihrer Brüder. Danach hat sie "The Show must go on" in ihr Repertoire aufgenommen und ist zu einer Ikone des Durchhaltens geworden.

Außerdem ist die Generation, in deren Kindheit "Titanic" wichtig war, jetzt erwachsen. Erwachsen genug, um sich wieder jenseits von Neunzigerjahrepartys der Musik ihrer Kindheit zu nähern. Céline Dion hat lange genug durchgehalten, um jetzt wenn nicht mit Alters-, so doch mit Erwachsenenmilde von denen gehört zu werden, die ihre Lieder zwischenzeitlich abgelehnt oder schlicht vergessen hatten. "My Heart Will Go On" soll mittlerweile ganz unironisch in Coffeeshops im New Yorker Hipster-Stadtteil Williamsburg laufen - und tätowierte Kellnerinnen singen leise mit.

Dass ihre Musik sentimental ist, stimmt. Da lässt sich nichts umdeuten

Und dann ist da noch die Sache mit der Coolness. Die hatte Céline Dion nie und sie wird sie auch nicht mehr entwickeln. Sie macht weiter ihre ausladenden Handbewegungen und klopft sich heftig auf die Brust beim Singen. Dass ihre Musik sentimental ist, stimmt. Da lässt sich nichts umdeuten. Aber muss das ein Vorwurf sein? Rappern wird auch nicht vorgeworfen, dass sie nur über die harten Seiten des Lebens singen. Das Weiche aber, das muss sich rechtfertigen.

Céline Dion ist auf der Bühne vor allem eines: wirklich unfassbar nett. Wenn sie um Applaus für ihre Musiker, "meine zweite Familie", bittet und für die Techniker, ist man so gerührt von ihrer Herzlichkeit, dass man kurz aufhört mitzuschreiben und brav klatscht.

Wenn sie sich beim Publikum dafür bedankt, dass es ihr eine so lange Karriere ermöglicht hat, bekommt sie feuchte Augen. Man sieht das sehr deutlich auf den riesigen Leinwänden - und die Leute spenden, offenbar selbst gerührt, minutenlang stehend Applaus. Dann muss Céline Dion weinen. Ein solches ungebrochenes Schwelgen in Rührung und Gefühl, zusammen mit 12 000 Menschen, das hat etwas beinahe Religiöses.

Dass das funktioniert, liegt auch daran, dass man Dion das Celebrity-Klischee abnimmt, sie sei eine ganz normale Frau, die ein nicht normales Leben führt. Sie steht auf der Bühne wie eine Frau, nicht schöner als viele andere, die jemand sehr professionell gestylt hat, nur natürlich sehr viel versierter. Und die eben einfach diese Wahnsinnsstimme hat, mit der sie einen hohen Ton in diesen Riesensaal schicken kann und er zerschneidet zehn Sekunden lang die Luft wie die Scheinwerfer die Dunkelheit. Eine Diva! Und dann läuft sie ein paar Schritte rüber zum Flügel, ein bisschen wie ein Kerl, der da jetzt seine Bierflasche abstellen will.

Wenn so jemand dann eine Liebesballade singt, glaubt man jedes Wort. Because You Loved Me? Ja, genau deshalb. That's the Way it is? Absolut. My Heart Will Go On? Ja, sogar das.

Und warum auch nicht? Der kanadische Popkritiker Carl Wilson hat 2008 ein Buch über Céline Dion veröffentlicht, in dem er seiner Abneigung ihrer gefälligen, massentauglichen Musik gegenüber auf den Grund geht, an der er lange nichts Echtes, Individuelles finden konnte, von Gesellschaftskritik ganz zu schweigen.

Es geht in ihren Liedern um etwas anderes. Um etwas, das neben all der anderen großartigen, komplexen Popmusik, die es heute gibt, auch eine Existenzberechtigung hat. Um das Einfache, um das, was verbindet. Um das, was - trotz allem - schön ist am Menschsein. Liebe, Zusammenhalt, Mitgefühl.

Sentimentale Kunst, schreibt Carl Wilson am Ende seines Dion-Selbstversuchs, sei wie ein "Workout, bei dem man seine Gefühle trainiert, sie fit hält für den Einsatz." Vielleicht ist es Dions Musik, die unsere polarisierte Welt gerade braucht.

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