Süddeutsche Zeitung

Corona und Kulturveranstaltungen:Eine Frage der Klimaanlage?

Während Flieger wieder vollgepackt werden, müssen Konzert- und Theaterhäuser leer bleiben. Für Künstler kommt das einem Berufsverbot gleich, das sie so nicht hinnehmen sollten.

Kommentar von Reinhard J. Brembeck

Vor einigen Jahrzehnten war in München ein Aufkleber verbreitet, der Erheiterung wie Diskussionen auslöste: "Das Kulturreferat ist der natürliche Feind des Künstlers." Das war witzig und wahr zugleich, fühlen sich doch viele freischaffende Künstler als Secondhand-Kunstmacher, weil die öffentliche Hand ihre eigenen Institutionen (finanziell) sehr viel mehr hätschelt als Kleinkünstler, freie Ensembles, Privattheater. Wer damals Theaterwissenschaft studierte, bekam als Erstes zu hören, dass es in München so viele arbeitslose Schauspieler gebe wie in ganz Deutschland an den öffentlichen Häusern angestellte.

Glückliche Zeiten, denkt man sich da heute angesichts der vielen als kunstfern wahrgenommenen Politiker (Söder, Merkel, Grütters). Kunst gilt denen, anders als Lufthansa und Fußball, nicht als überlebensrelevant. Hilfsgelder sind spärlich und werden manchmal nur zögerlich ausgezahlt, Freischaffende in die Grundsicherung abgedrängt. Orchester, jetzt sogar die Berliner Philharmoniker, gehen in Kurzarbeit. Absichtserklärungen und Geraune ersetzen oft klare Ansagen.

Wo öffentliche Veranstaltungen wieder möglich sind - Wiesbaden machte gerade den Vorreiter - sind es mickrige Kleinstveranstaltungen wie Liederabende. Von großen Orchesterbesetzungen mit 100 Musikern kann nur geträumt werden. Nur fünfzehn Musiker dürfen derzeit (nicht nur in Berlin) auf die Bühne, plus Solisten und Dirigent (der bei solch einer Besetzung ein Witz ist). Noch übler sieht es in den Zuschauerräumen aus, wo die Abstandsregelungen eingehalten werden müssen. Solange das so ist, wird, selbst wenn der Betrieb in allen Bundesländern wieder hochgefahren wird, wohl nur ein Viertel der Plätze besetzt werden.

Künstler müssen Forderungen genauso schamlos artikulieren wie andere Wirtschaftszweige

Dass das vernünftig ist, bestreitet kein Intendant, kein Musiker. Allen wäre es ein Gräuel, wenn ein Konzertsaal, ein Opernhaus zu einem ischglichen Virenverteilhotspot würde. Aber für viele Musiker kommt das Konzertverbot einem Berufsverbot gleich, das sie finanziell ruiniert. Das Festspielhaus in Baden-Baden ist der größte private Klassikveranstalter Deutschlands, organisiert als millionenschwere Stiftung. Um wirtschaftlich erfolgreich zu spielen, müssen 2000 Menschen in den Saal, sonst droht ein Verlustgeschäft. Ähnlich bei den Berliner Philharmonikern. Die erwirtschaften 60 Prozent ihrer Einnahmen selbst, das ist überdurchschnittlich viel. Ohne Normalbetrieb sind selbst diese reichen Institutionen bald pleite.

Weiteren Unmut verursachte die Nachricht, dass Flugzeuge ohne Platzbeschränkungen wieder fliegen dürfen. Weil es sich sonst nicht rechnet und weil die Klimaanlagen so gut seien, dass keine Eineinhalb-Meter-Klausel gelten müsste. In Häusern wie Baden-Baden und der Berliner Philharmonie ist die Klimaanlage genauso gut, die wirtschaftliche Notlage genauso groß. Wenn Flugzeuge voll sein dürfen, dann auch die Konzertsäle. Das erfordert die Gleichbehandlung.

Vielleicht müssten Künstler ihre Forderungen genauso schamlos wie andere Wirtschaftszweige artikulieren. Mehr Druck wäre also notwendig und weniger Obrigkeitsduckmäusigkeit.

Vielleicht kann den Künstlern auch das stark von der Seuche heimgesuchte und stets politikerskeptische Italien Vorbild sein. Im Florentiner Dom bekommen Besucher ein Halsband mit einem elektronischen Piepser umgehängt, der sich leise bemerkbar macht, wenn man einem Artgenossen zu nahe kommt. Konzerte könnten durch solche Piepserchöre im Sinne von John Cage bereichert werden. Dirigent Riccardo Muti wird dagegen am 21. Juni in Ravenna das landesweit erste (Freiluft-)Konzert seit dem Shutdown dirigieren. Sein Cherubini-Jugendorchester tritt mit allen 60 (!) Musikern an.

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Quelle:
SZ vom 23.05.2020/luch
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