Anja Harteros singt "Vissi d'arte". Es ist der Moment in Giacomo Puccinis "Tosca", wenn die Zeit stehen bleibt, wenn im Nationaltheater der Sauerstoffgehalt in der Luft zu steigen scheint, weil alle den Atem anhalten. Und auch gnädig die Augen schließen, denn in Luc Bondys Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper versperrt in diesem überirdischen Augenblick ein dämlicher Sessel die Sicht auf die Sopranistin, die ihre Arie im Liegen auf einem Sofa singen muss. Aber wahrscheinlich könnte man Anja Harteros den Palazzo Farnese auch auf Schnürboden oder in der Opernkantine einrichten, ihre Stimme beseelt und veredelt jeden Raum.
Sir Peter Jonas hatte das sofort erkannt, als er 1999 in der Jury des "BBC Singer Of The World Competition" in Cardiff saß und die junge Frau aus Bergneustadt das "È strano!" aus "La Traviata" callas-gleich singen hörte. Münchens damaliger Staatsopernintendant engagierte die 26 Jahre alte Siegerin quasi von der Bühne weg fürs eigene Haus, wo ihr Generalmusikdirektor Maestro Zubin Mehta die Gute-Fee-Frage stellte: "Was möchten Sie singen?"
20 Jahre ist das nun her. Und obwohl Anja Harteros nie festes Ensemblemitglied wurde, ist ihr die Bayerische Staatsoper zur künstlerischen Heimat geworden - und zum Katapult für eine Weltkarriere. Am Nationaltheater hat sie alle Wunschpartien gesungen: Debüt mit Agathe im "Freischütz", es folgen über 24 Rollen in mehr als 240 Vorstellungen. Viele davon in Symbiose mit Jonas Kaufmann als Partner. Staatsintendant Nikolaus Bachler kann diese Sternstunden alle gar nicht aufzählen, als er Harteros am Sonntagabend nach der Tosca-Vorstellung zum Bühnen-Jubiläum die Meistersinger-Medaille überreicht, eine Auszeichnung, gestiftet von den Freunden des Nationaltheaters.
Das Publikum im Saal ist aufgestanden, jubelt der Kammersängerin zu. Dankt ihr für das "Tu che le vanità" im "Don Carlo", für das "Pace, pace, mio dio!" aus "La Forza del Destino", das "La mamma morta" aus Andrea Chénier oder Desdemonas "Ave Maria". All jene innigsten Momente, wenn im Bayerischen Nationaltheater die Zeit immer wieder stehen bleibt, weil es Anja Harteros ist und keine andere, die da auf der Bühne singt. Nikolaus Bachler war am Sonntagabend hoffentlich ein verlässlicher Prophet, als er sagte: "Es gibt noch Vieles, was wir uns von Ihnen hier wünschen, und ich bin sicher, das wird auch alles hier passieren."