Süddeutsche Zeitung

Konzert:Grandiose Überfälle

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Auftakt des Weinberg-Festivals des Jewish Chamber Orchestra

Von Egbert Tholl, München

Vermutlich gäbe es auch dieses Festival nicht, wenn nicht die Bregenzer Festspiele 2010 die Oper "Die Passagierin" dem Vergessen entrissen hätten. Danach war deren Komponist Mieczsław Weinberg die Klassikentdeckung schlechthin. Aber: Außer der "Passagierin" setzten sich kaum Werke von ihm im Repertoire fest. Eingespielt ist inzwischen sehr viel, live aufgeführt wird wenig. So haftet dem Weinberg-Festival des Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) unter seinem künstlerischen Leiter Daniel Grossmann immer noch etwas Pionierhaftes an.

Weinberg wurde 1919 in Warschau geboren, er starb 1996 in Moskau. Sein Leben, von dem Grossmann zur Eröffnung des Festivals beim Gesprächskonzert im NS-Dokumentationszentrum einiges erzählt, gleicht einem Roman des 20. Jahrhunderts. Flucht vor dem Krieg und dem Naziterror, erste Erfolge, dann der Versuch, in der stalinistischen Diktatur als Künstler überleben zu können, Formalismus-Vorwurf, Verfolgung, Verhaftung, einige Werke zur Beschwichtigung des Systems erfunden, Stalins Tod, später Ruhm. Manches in diesem Leben erinnert an das seines Mentors und Lehrers Dmitri Schostakowitsch, mit dem Weinberg eine enge künstlerische Freundschaft verband.

Die Musik, die bei dem Gesprächskonzert erklingt, stammt aus der Phase des späten Ruhms. Aniko Zeke spielt mit Inbrunst vier der 24 Präludien für Violoncello solo, eigenwillige Miniaturen, harsch im Pizzicato, rastlos in den gestrichenen Teilen, ein harter Marsch auf der C-Saite, eine verfliegende Idee im Diskant. Hier und bei den anderen Stücken des Abends wird deutlich: Weinberg klingt nicht nach etwas, nach einem Kollegen, nach Schostakowitsch etwa. Weinberg klingt nach Weinberg. Punkt.

Er hat eine Lust an Einfällen, die wie Überfälle daherkommen. Die zweite Violinsonate (1967) nutzt Sándor Galgóczi genau dafür, aber da ist auch viel Melos, alles bleibt tonal nachvollziehbar, nicht einmal der Bereich traditioneller Spieltechniken wird verlassen. Aber im bruchlosen Aneinanderreihen völlig disparater Blöcke wirkt die Musik aufregend modern. Zum Ende ein Trio für Flöte, Viola und Harfe von 1979. Sehr schön, sehr seltsam, Sarah Cocco an der Harfe ist ein Knaller, autark, unwirsch und sehr wach.

Das Weinbergfestival endet am Sonntag, 26. Mai, mit einem Gesprächskonzert in den Kammerspielen (12 Uhr). Höhepunkt davor: Die Oper "Lady Magnesia" am Donnerstag (23. Mai) im Schauspielhaus der Kammerspiele, unerhört, live und in Farbe, 20 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 22.05.2019
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