Konzert der Rolling Stones:Können diese schmalen Hüften lügen?

In Hamburg verwandeln sich die Rolling Stones von der härtesten Rock-Gruppe der Welt in die beste Bluesband.

Von Willi Winkler, Hamburg

Um 21 Uhr 16 mitteleuropäischer Zeit - Samstagabend war's in Hamburg, arschkalt, und der Mond schaute blasiert herunter - führte Mick Jagger vor, was ein Klassiker ist. Im Internet hatten sich die Zuhörer vorher einen Wunsch-Titel aussuchen dürfen und unter vier möglichen wählten sie entschlossen den frauenfeindlichsten, den die Rolling Stones je aufgenommen haben: "Under My Thumb". Noch vor 25 Jahren wurden vor Konzerten Flugblätter verteilt mit der Aufklärung "Wisst Ihr überhaupt, wovon die Stones da singen?". Wusste offenbar niemand, wollte vor allem niemand wissen. Nämlich, dass es das besungene Mädchen endlich kapiert hat und pariert: "Sie gehorcht aufs Wort."

Abgesehen davon hat "Under My Thumb" eine der schönsten Melodien, die dieser Combo aus den besseren Vororten im Süden von London eingefallen ist. Und dann spielen sie es natürlich, dieses höhnische Lied, wobei Mick Jagger beiläufig den "wimmernden Hund" durch ein "reizendes Mädchen" ersetzt, aber schlimm bleibt es trotzdem, schlimm und inzwischen ein Klassiker.

Aber jetzt im Ernst: Es ist doch Musik, und ohne die Rolling Stones ist alles nichts.

Durch die synchrone Handydokumentationssucht bekommt der Platz vor der Bühne fast ein Muster wie das Stadtbild von Los Angeles, wie es sich den Außerirdischen beim Landeanflug bietet. Gelandet sind aber, ebenfalls mit eigenem Flugzeug, die Rolling Stones, die in Hamburg ihre Europatournee beginnen. Sie heißt "No Filter" und ist, das muss jetzt sein, trotzdem kein Kommentar zum Diesel-Skandal.

Freunde aus Liverpool hätten ihnen Hamburg empfohlen, behauptet Jagger unter Beifall des Publikums, schon manche Karriere habe dort begonnen. Das ist nicht nur eine fröhliche Ehrenbezeigung für die Beatles, sondern ein Hinweis darauf, dass sich die Freie und Hansestadt von Gotthold Ephraim Lessing bis John Lennon schon immer von Zugereisten genährt hat. Jagger begrüßt nach Hamburg gleich ganz Deutschland auf Deutsch (wobei sein Italienisch, mit dem er gelegentlich "Con le mie lacrime" statt "As Tears Go By" vorträgt, jeden beruhigen sollte, den Skrupel plagen, wenn er im Restaurant nach Landesart bestellen will). Er lobt den Stadtpark (vom tagelangen Regen durchgeweicht), er lobt die 82 000 vor ihm (gern geschehen), er lüpft kurz das Hemd und zeigt das Drunter ("Waschbrettbauch!", juchzt die Frau neben mir). Können diese schmalen Hüften lügen? Kann so jemand ein Frauenfeind sein?

Er hält es mit dem Teufel, behauptet der Sänger, und die Hölle frisst sich sogleich höllenschlundrot bis zum haushohen oberen Bühnenrand durch, spitze Schreie von hinten inklusive. Man wisse ja, wie es um ihn stehe - "the nature of my game". Gleich führt er dies eigentümliche Wesen vor. Seit Menschengedenken besteht es im überkandidelten Auftritt des Pathetikers Jagger, dem planmäßig, aber trotzdem gewalttätig die Gitarre des Ironikers Keith Richards ins großsprecherische Wort fällt. Wenn er nicht gerade malt, ist auch Ron Wood (von Jagger witzlos als "Mister Holz" vorgestellt) als herumirrender Kasper dabei, und zusammengehalten wird das Ensemble durch den bauhaussachlichen back beat von Charlie Watts hinten am Schlagzeug.

Es ist ein bisschen seltsam, wenn sich Mick Jagger als "poor boy" ausgibt

Natürlich ist es interessant zu erfahren, dass der Sänger in New York eine Geschiedene flachgelegt hat ("Honky Tonk Woman") oder dass brauner Zucker so gut schmeckt ("Brown Sugar"), aber es ist doch die Musik, auf die es ankommt. Oder hat sich vielleicht je irgendjemand für die geradezu adornitisch beschränkte Gesellschaftskritik in "I Can't Get No Satisfaction" interessiert?

Wie könnten die Rolling Stones sonst, bleiben wir bei der Musik, ausgerechnet in Hamburg in aller Unschuld den "Street Fighting Man" ins Gefecht schicken? Als das Lied 1968 herauskam, durfte es in Amerika aus Furcht vor einem Aufstand nicht im Radio laufen. Die Enkel der Erstkäufer ziehen heute mit dem Parfum dieses literarischen Straßenkampfes von damals in die Schlacht gegen die Welt der "Kompromisslösungen". Erst am Freitag ist einer von ihnen mit Bewährung davon gekommen, weil er in Hamburg beim G-20-Gipfel nach einer verlorenen Freundin suchte und eher nebenbei Flaschen auf Polizisten warf.

Allerdings ist es ein bisschen seltsam, wenn sich Mick Jagger als "poor boy" ausgibt, dem nichts bleibe, als in einer Rock'n'Roll-Band zu spielen. Der arme Bub wird sich vermutlich nicht anders als sein Lieblingsfeind Keith Richards gleich nach dem Konzert besorgt erkundigt haben, welche Schäden der Hurrikan "Irma" bei seinen Liegenschaften in der Karibik angerichtet hat.

Die Stones kehren in ihr frühvollendetes Frühwerk zurück

Jagger hatte nie ein Problem damit, auf der richtigen Seite zu stehen und konnte deshalb auch nicht begreifen, warum nicht alle Welt Margaret Thatcher, die Eiserne Lady, so toll fand wie er. Außer für Geld interessierte sich dieser abgebrochene Student an der London School of Economics nur für den Blues, der auf raren Platten aus Amerika importiert wurde.

Damals hoffte der Junge noch, die frisch formierten Rolling Stones würden nicht als "irgend so eine Rock'n'Roll-Veranstaltung" missverstanden. Sie lernten Jimmy Miller und Muddy Waters, Little Walter und Buddy Johnson. Brian Jones spielte in der der Urfassung von "Under My Thumb" die Marimbas so blond, wie es blonder nicht mehr geht. Jones starb, der Erfolg kam, das Stadion, ein Plattenvertrag nach dem anderen. Aber letztes Jahr haben sie eine Platte herausgebracht, "Lonesome & Blue". Kein einziges Stück darauf stammt vom Duo Jagger & Richards, es sind nur alte Sachen, Klassiker, die sie mit einer religiösen Inbrunst, mit der Ehrfurcht vor dem Alter ihrer Kirchenväter spielen, das sie inzwischen selber erreicht haben. "Ride 'em on Down" können sie so schwarz vortragen, dass sie schon fast zebraig wirken.

Bei zwei Stücken spielte damals Eric Clapton mit, doch den brauchen sie nicht. Wer sich von ihm in den Schlaf wiegen lassen will, hat jedes Recht dazu, aber hier vorn auf der Bühne in Hamburg fetzen sich zwei um die besten Licks, spielen, wenn es das gibt, ein permanentes doppeltes Solo, verlässlich unterstützt von Charlie Watts an den Drums.

Der Kundendienst wird dabei nicht vernachlässigt, es kommen die Größten Hits zum Vortrag. Aus dem zweifelhaften Spätwerk, also den letzten dreißig Jahren, wird dankenswerterweise nur ein einziges Stück gewürdigt. Dafür kehren sie in ihr frühvollendetes Frühwerk zurück, eröffnen mit "Sympathy For the Devil", greifen sich "Brown Sugar" und spielen "Dancing With Mr. D.", den Blues, der einst die von Jamaika inspirierte Platte "Goat's Head Soup" aus dem Jahr 1973 einleitete. An diesem Abend wird das Stück überhaupt erst zum zweiten Mal live gespielt.

"Paint it Black" ist dabei, das Lied, für das sich sogar eine schwere Depression lohnte, auch "Play With Fire", beide aus einem England, das schon lange hinterm Horizont versunken ist. Da ist es dann auch wurschtegal, dass da oben vielfache Millionäre stehen und mit zwei Eintrittskarten fürs Konzert der Monatssatz eines Hartz-IV-Empfängers verputzt ist.

Wer will, kann "Gimme Shelter" wieder ganz aktuell verstehen

Um Jagger eine Pause in seinem Buhlen um die Frauen- und Männerherzen zu geben, singt Keith Richards wie immer zwei Stücke allein. Sein Hauptwerk, sein absolut wahnsinniges Stück "Gimme Shelter", wird dann wieder gemeinschaftlich aufgeführt. Jagger holt sich dafür die stimmstarke Sasha Allen, die selbst Tina Turner in ihren besten Tagen wegpusten würde.

Wenn Jagger und Allen, begleitet von der Gitarrenmacht Richards & Wood, duettieren, schnellt die Temperatur auf der Festwiese im Stadtpark von den offiziell angezeigten 12,5 Grad Celsius augenblicklich auf wenigstens 20 Grad. Wer will, kann "Gimme Shelter" wieder ganz aktuell verstehen, wenn es heißt, der Krieg sei nur einen einzigen Schuss entfernt, der gar nicht mal - sagen wir - in Nordkorea abgefeuert werden muss.

So sehr Richards seinen Co-Autor sonst wegen dessen nie genugsam befriedigter Aufstiegs- und Anerkennungssucht verspottet, er begleitet ihn wie ein getreuer Knecht, wenn Jagger sich der Mundharmonika annimmt und zum Beispiel bei "Tumbling Dice" ein perfektes Solo hinlegt. Gitarre spielen kann er auch, doch an diesem Abend brilliert er mit der Mundharmonika, als wäre er wirklich arm, und die Baumwollfelder begännen gleich draußen im Alten Land unter der Elbe.

Arm dran sind aber alle, die nicht wie die 82 000 unter dem blasierten Mond von Hamburg dabei sein durften, wie sich die härteste Rock-Band der Welt an einem arschkalten Samstagabend in die beste Bluesband verwandelte.

Weitere, praktisch ausverkaufte Konzerte, am 12. September in München, am 16. September in Spielberg (Österreich), am 20. September in Zürich und am 9. Oktober in Düsseldorf.

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